Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: 3 spannende Medienprojekte, die 2016 an den Start gehen.
Wenn Wohnsiedlungen von Lichterketten bevölkert sind, Kinder ihre Wunschlisten für das Christkind schreiben, Workaholics endlich ein paar freie Tage genießen, gute Vorsätze für ein neues Jahr gefasst werden, die Bundesliga in der Winterpause ist und bei den Menschen schon wieder Panik aufkommt beim Gedanken an die anstehenden Aufgaben, dann ist es Zeit für die Jahresrückblicke. Nicht nur im Fernsehen, wo Günther Jauch, Johannes B. Kerner, Oliver Geissen und die anderen, immer gleichen Fernsehgesichter über politische Erdbeben, grausame Katastrophen und die Hits des abgelaufenen Jahres sinnieren. Auch Medien, Journalisten und Blogger werfen einen Blick zurück, sprechen über Charlie Hebdo, Varoufake und netzpolitik.org, formulieren aus den 2015er Erfahrungen gewonnene Wünsche für das neue Jahr oder ziehen Schlüsse für das Überleben von Verlagen und Sendern.
Meist handelt es sich bei den Rückblicken, die auch Vorausschauen erlauben, um sehr allgemeine Aussagen. Facebook und Google sind die neuen Gatekeeper. Das Beziehungsbusiness muss zum Kerngeschäft der Medienhäuser werden. Journalisten müssen sich mit der Kritik an ihrer Arbeit auseinandersetzen. Schön und gut. Doch wo sind konkrete Projekte, schon angegangene Neuheiten in den Weiten des digitalen Journalismus? Wer plant, 2016 mit einem frischen Ansatz anzutreten, aus vergangenen Fehlern und verpassten Gelegenheiten zu lernen, wenig beachtete Herangehensweisen neu aufleben zu lassen, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen? Im Mediendschungel stelle ich diese Woche drei Projekte vor, die Aufmerksamkeit verdient haben und mich gespannt auf sie warten lassen.
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1. Coda
Schwere Erdbeben in Haiti oder Nepal, die Entführung hunderter Mädchen in Nigeria, die Ebola-Epidemie in Afrika – die Vergangenheit ist voll von Ereignissen, die für kurze Zeit die Welt in Atem gehalten haben, meine Aufzählung nur eine willkürliche und bei weitem nicht die Gesamtheit der Vorkommnisse abdeckende Auswahl. Die Sensationslust der Medien und Konsumenten half, für Tage, Wochen, seltener Monate, den Fokus auf die betroffenen Gebiete zu richten. Gibt es keine Nachbeben, neuen Erkenntnisse, weitere Todesfälle zu verkünden, so richtet sich das Scheinwerferlicht auf ein anderes Thema. Nur wenige Menschen bleiben zurück und tauchen in die Tiefe einer Geschichte ein. Coda möchte dabei ein Vorreiter sein. Das Projekt von Natalia Antelava hat sich zum Ziel gemacht, an einer Story, einem Themenkomplex dranzubleiben, auch wenn das große Interesse nicht mehr da ist. Nach einem politischen oder sozialen Ereignis, das für kurze Zeit große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, will Coda nicht wie der Rest des Medienzirkus weiterziehen, das nächste Highlight suchen und nur zurückschauen, wenn ein Konflikt wieder aufflammt.
Stattdessen will Antelava mit ihrem Team das große Bild eines Themenkomplexes zeigen. Statt, wie es meistens gehandhabt wird, nur an der Oberfläche eines Konflikts zu kratzen und bloß Schlaglichter auf einzelne Aspekte zu werfen, möchte Coda die Details erklären und diese im Themengeflecht verknüpfen. „Krisen enden nicht, wenn die Journalisten weiterziehen“, sagt Antelava über die Beweggründe für den Aufbau des Online-Magazins. Wahres Verständnis einer Auseinandersetzung und gesellschaftlicher wie politischer Vorgänge ist das Ziel des Projekts. Ganz unbescheiden nennen die Macher ihren Ansatz „Die Neuerfindung der Krisen-Berichterstattung“.
Unter diesem Motto lief bis zum 29. Dezember auch eine Crowdfunding-Kampagne, die der Plattform rund 23.000 US-Dollar eingebracht hat. Von dem Geld möchte das Team um Antelava das erste Pilot-Projekt starten, bei dem es um die prekäre Situation von LGBT-Gruppen in Russland geht. In Zukunft möchte Coda mindestens sechs Monate über ein bestimmtes Thema berichten. Der Ansatz, der dem kurzweiligen Häppchen-Journalismus bei Facebook, Twitter und Aggregatoren entgegengesetzt ist, verspricht qualitativ hochwertige Berichte, die helfen werden, die Aufmerksamkeit für ein ansonsten längst vergessenes Thema zu sichern. Auch das Design verspricht, das News-Erlebnis zu bereichern.
2. Der Kontext
Der Grundgedanke von Der Kontext ist der gleiche wie bei Coda: Tiefenwissen zu einem Thema ermöglichen, keine Aufgeregtheit in der Berichterstattung. Stattdessen reichhaltige Informationen, die Betrachtung eines Themenkomplexes von allen Seiten aus, Ziel ist stets das vollumfängliche Verständnis eines Themas. Beiden Projekten ist auch gemein, dass sie Qualität höher bewerten als Geschwindigkeit und Aufmerksamkeitsgeheische durch das Brüllen von Versprechungen, die nicht gehalten werden können. Besonders interessant ist bei Der Kontext das Design. Ein Netz verbindet alle Bestandteile eines Themas, die Nutzer können in verschiedene Ebenen und somit immer weiter in die Materie eintauchen. Jede neue Ebene offenbart weiterführende Elemente, schrittweise wird also das Wissen erweitert.
Für die Beta-Phase hatte sich das dreiköpfige Gründungsteam – Julia Köberlein, Bernhard Scholz und Erich – Griechenlands Schuldenkrise als Thema ausgesucht. Nach der Grundebene, in der ein erster Überblick über die verschiedenen Aspekte – Rettungspläne, Lebensverhältnisse, Wirtschaft, Politik, Geschichte, Kultur und Geografie – präsentiert wird, erhält man durch Zoomen in das Netz eine erste Übersicht weiterer Verflechtungen, Artikel, Interviews, kurze Erklärungen, lange Erzähltexte. Kleine Häppchen leiten mich auf von mir eigens ausgewählten Wegen durch das Netz an Audios, Texten und Videos und ermöglichen mir, zahlreiche und möglichst allumfassende Informationen zum gewählten Thema zu gewinnen. Ein sehr spannender Ansatz, der schön umgesetzt wird. Bereits in der Beta-Version zeigen die Macher in kurzen Videos, was sich in der nächsten Version ändern wird und an welchen Stellschrauben bis dahin gedreht wird. Für die Umsetzung von Der Kontext wurde vor einigen Tagen eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, die kräftig unterstützt werden sollte. Mindestens 10.000 Euro sollen eingesammelt werden, damit die ersten ein bis zwei Themennetze gesichert sind. Bei 200.000 Euro wäre ein Jahr Der Kontext mit insgesamt zwölf Themen fix.
3. Übermedien
Bei Stefan Niggemeiers neuer Plattform übermedien.de handelt es sich weder um einen besonders neuen Ansatz im digitalen Journalismus noch um ein ganz frisches Thema. Vielmehr sehe ich es als einen willkommenen Versuch, den „Lügenpresse“-Rufern den Wind aus den Segeln zu nehmen, auch selber Kritik an den Medien zu üben und so die Diskussion um das Vertrauen in Medien wieder in Bahnen zu lenken, in denen es nicht nur richtig und falsch gibt, sondern etliche Grauzonen. „Wir schauen uns an, was läuft in den Medien schief, was läuft vielleicht auch nicht schief, obwohl es alle kritisieren“, sagte Niggemeier kürzlich im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur und warf einen Ausblick auf seine wohl gnadenlose, sich an den Kern der Medienkritik vortastende Arbeitsweise bei übermedien.de: „Wir wollen uns da richtig ins Getümmel stürzen.“
Am 11. Januar startet das Angebot, bis jetzt gibt es noch nicht viele Informationen dazu. Auf der schon vorhandenen Facebook-Seite heißt es lediglich „Übermedien. Wie der Name schon sagt“. Drei dort gepostete Videos zeigen zusammengeschnittene Gesprächsfetzen, die Aussage der Videos könnte auch sein: So viel Sendezeit, so wenig Klartext. Ein genaueres Bild wird Stefan Niggemeier ab Mitte Januar wohl selber liefern. Spannend wird sein, ob die Plattform in der Lage ist, scharfe Medienkritiker für eine ernsthafte Beschäftigung mit der Wahrheit gewinnen zu können, ob übermedien.de zu einer objektiv arbeitenden Institution der Medienkritik werden kann. „Lügenpresse“ ist ein ekelhafter Begriff, „Manchmal-unscharf-arbeitende-Presse“ oder „Ab-und-zu-stark-einseitige-Presse“ sind zwar unhandliche Begriffe, würden aber auch viel Gift aus einer Diskussion nehmen, die Journalisten zu Feindbildern gesellschaftlicher Randerscheinungen macht. Wie wird sich die Presse bei Niggemeiers übermedien.de schlagen? Ich bin gespannt.
Nächste Runde des Media Lab Bayern
Die vorgestellten Projekte sind lediglich drei Ansätze unter vielen weiteren. Die meisten Ideen dürften noch in den Köpfen der Digitaljournalisten von heute und morgen schlummern. Für solche ist beispielsweise das Media Lab Bayern die richtige Anlaufstelle. Bald wird dort die zweite Runde aussichtsreicher Ideen für innovativen Journalismus mit einem Founders Fellowship gefördert, am 17. Januar läuft die Bewerbungsfrist ab. Wer jetzt schon Hinweise auf spannende Projekte, frische Medien-Start-Ups und innovative Ideen hat, schreibt sie mir gerne. In unregelmäßiger Abfolge werde ich an dieser Stelle weitere Projekte vorstellen.