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Fahren und Bezahlen – ohne einen Finger zu rühren: Ist das die Zukunft im Transport?

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Mit diesem Trick sparst du Geld im ÖPNV. (Foto: Turnit)
geschrieben von Marinela Potor

Einsteigen. Aussteigen. Fertig. Keinen Finger rühren. Das Ganze nennt sich BIBO (be-in / be-out) und ist für Transportforscher so etwas wie der heilige Gral im ÖPNV. Ein Start-up aus Estland könnte ihn gefunden haben.

Entwickelt wurde das „händefreie“ Fahren via BIBO vom Unternehmen Turnit aus Estland. Das Start-up testet seine Technologie aktuell zum ersten Mal großflächig in der estnischen Stadt Tartu. Laufen die Tests erfolgreich, könnte die Methode möglicherweise bald auch in anderen europäischen Ländern, also auch in Deutschland, eingeführt werden.

BIBO: Der heilige Gral im ÖPNV

Es gibt wohl wenige Menschen, die so fasziniert von öffentlichen Verkehrsmitteln sind, wie Andres Osula. Er arbeitet seit 17 Jahren in diesem Bereich und spätestens seitdem er seine Masterarbeit zum Thema „Be-In / Be-Out“, kurz BIBO, verfasste, lässt ihn das Thema nicht mehr los.

BIBO, WIWO, CIWO – Was ist das alles?

Be-In / Be-Out steht in der Wissenschaft für ein bestimmtes Konzept in öffentlichen Transportmitteln. Was BIBO von anderen E-Systemen unterscheidet ist, dass der Fahrgast keine eigene Handlung vollziehen muss, um mit einem Ticketsystem zu interagieren. Er muss also keine Maschine betätigen, kein Smartphone zücken und auch mit niemandem sprechen. Stattdessen übernimmt ein automatisiertes System all das.

Alles, was die Fahrgäste tun müssen, ist in ein Transportmittel einzusteigen. Fachleute sprechen deshalb auch von BIBO als einer „impliziten Interaktion“. Das macht nicht nur den Transport für Passagiere bequemer, es könnte unter anderem für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder auch mit Sinnesbeeinträchtigungen sehr hilfreich sein. Darüber hinaus ist es für Transportunternehmen oder die Betreiber von öffentlichen Transportmittel ein reibungsloser Weg, um Daten zu sammeln und Strecken zu planen. Kein Wunder, dass gerade BIBO von vielen Transportforschern DIE Traumvorstellung im ÖPNV ist.

Allerdings war sie bisher eher schwer technisch umzusetzen, weshalb die meisten Städte andere Konzepte nutzen – mit ähnlich lustigen Namen.

So gibt es neben BIBO zum Beispiel auch Walk-In / Walk-Out (WIWO) oder auch Check-In Check-Out (CICO), manchmal auch Touch-In und Touch-Out (TITO) genannt. Bei CICO haben Fahrgäste eine elektronische Fahrkarte oder ihr Smartphone und berühren damit einen Check-In-Point vor dem Einsteigen und erneut einen Check-Out-Point zum Aussteigen.

WIWO funktioniert dagegen, ähnlich wie BIBO, ohne Hände. Allerdings gibt es einen kleinen technischen Unterschied: Beim WIWO muss das System erkennen, ob der Fahrgast ein- oder aussteigt. Das ist in einem Bus gut umsetzbar, da Fahrgäste hier vorne einsteigen und hinten aussteigen. Bei einer S-Bahn oder U-Bahn wird das dann aber komplizierter.

Besser planen, mehr sparen

Das klingt möglicherweise alles sehr abstrakt, tatsächlich hängt aber eine bequeme und effiziente Fahrt im ÖPNV an genau diesen Systemen. Das ist nicht nur für Passagiere angenehm, sondern auch für Transportbetreiber. Letztendlich sparen sie mit einem effizentien System viel Geld.  Denn je besser ein Transporbetreiber seine Flotte und Route planen kann, desto mehr kann er sparen.

Deshalb erforschen Wissenschaftler, Städte und Transportunternehmen seit vielen Jahrzehnten diese verschiedenen Fahrkartensysteme. BIBO lag dabei bisher immer in weiter Ferne und galt als technisch kaum umsetzbar.

BIBO erstmals erfolgreich in Dresden getestet, aber nie eingesetzt

So wurden in den 1990er Jahren in Europa vor allem WIWO-Systeme getestet, unter anderem in Frankreich, Portugal und in der Schweiz. Allerdings konnte lange kein Feldversuch erfolgreich abgeschlossen werden. Ende der 90er Jahre dann gab es zum ersten Mal ein vielversprechendes Ergebnis, das Projekt „EasyRide“, das mit Hilfe von Siemens in Basel ins Leben gerufen wurde. Erst wurde die WIWO-Variante getestet – ohne zufriedenstellende Ergebnisse. Besser lief es dann mit dem Projekt in einer BIBO-Version.

Diese wurde dann allerdings nicht in der Schweiz, sondern in Dresden weiterentwickelt und unter dem Namen ALLFA im Jahr 2005 ausgiebig in einem mehrmonatigen Feldversuch mit 2000 Nutzern und über 120.000 Fahrten getestet, wenn auch im Test kein Bezahlsystem angeschlossen war. Es war dennoch das allererste Mal, dass das BIBO-Konzept in so einem Ausmaß in der Praxis getestet wurde – und funktionierte. Allerdings wurde das System in dieser Form nach dem Pilotprojekt nie eingesetzt.

Hauptgrund war nach Ansicht von Andres Osula die Technologie. Da es zu dieser Zeit noch keine Smartphones gab, bekamen die Fahrgäste spezielle BIBO-Geräte ausgehändigt. Erstens waren diese Geräte aber teuer. Zweitens, mussten Passagiere für ihre Fahrten zwar nicht die Hände benutzen, aber immer daran denken, ihre spezielle BIBO-Karte mitzunehmen. Möglicherweise scheiterte die Methode auch deshalb, weil die Datensammlung für die BIBO-Karten für viele ein ungutes Gefühl hinterließ.

Nun, zwölf Jahre später, sieht es so aus als könnten Andres Osula und sein Start-up die BIBO-Technologie zum ersten Mal als offizielle Ticketing-Methode in einer Stadt einsetzen.

Weil aktuelle Technologien nicht genau genug waren, baute Turnit sein eigenes System

Andres Osulas erster Schritte zum eigenen BIBO-System begannen bereits im Jahr 1999 als er mit einem Team das erste elektronische Verkaufssystem für Langstreckenbusse in Estland auf die Beine stellte. 2001 kam ein Onlineshop dazu und 2010 gründete er schließlich sein Spin-Off-Unternehmen Turnit, um verschiedene Transportlösungen für den internationalen Fernbusmarkt zu entwickeln. So liefert Turnit etwa die Ticketing-Technologie für fast alle Flixbus-Konkurrenten in Deutschland. Nach diesen vielen Zwischenschritten hat Osula es nun endlich geschafft. Er hat mit Turnit Bibo sein eigenes BIBO-System entwickelt.

Es funktioniert auf der Basis von Bluetooth und alles was man als Fahrgast braucht, damit es funktioniert, ist ein Smartphone und die aktivierte Bluetooth-Funktion. Ist der Bluetooth Beacon einmal eingeschaltet, kann das Handy danach theoretisch die ganze Zeit in der Tasche bleiben. Alles anderes läuft automatisch.

Das sieht einfach aus, doch der Weg dahin hat etwas gedauert, berichtet Andres Osula im Interview mit Mobility Mag. „Unsere größte Herausforderung war, eine Technologie zu finden, die den Standort der Fahrgäste punktgenau ermitteln kann. Wir haben erst GPS und WLAN probiert, doch das war alles nicht exakt genug. Wir wollen ja schließlich nicht, dass ein Radfahrer oder Autofahrer, die neben dem Bus herfahren, als Insassen registriert werden. So haben wir dann in Kombination mit der Bluetooth-Funktion am Smartphone unsere eigene Micro-Location-Technologie entwickelt.“

Das bedeutet: Die Transportmittel sind mit einem speziellen Lesegerät ausgestattet, das per Bluetooth registriert, wenn ein Passagier ein- und wieder aussteigt. Fährt das Fahrzeug los, wird das als Start registriert. Steigt der Fahrgast aus, und das Fahrzeug fährt ohne ihn weiter, wird das als Ende einer Fahrt registriert. Ist die Fahrt beendet, wird der Ticketbetrag automatisch per Kreditkarte oder anderen elektronischen Zahlungsformen abgezogen. Die Zahlungsmethode muss ein Nutzer vorab einstellen, ansonsten muss er aber während all dieser Transaktionen nichts tun.

Turnit Bibo so funktioniert es

So funktioniert das System von Turnit Bibo (Grafik: Turnit)

Alle Eventualitäten getestet

Nun ist die Realität oft nicht ganz so reibungslos wie in diesem Beispiel. Denn es gibt viele Fehlerquellen, oder einfach typisches Verhalten von Menschen an einer Haltestelle, das für eine Technologie nicht unbedingt logisch ist.

Was passiert zum Beispiel, wenn ein Fahrgast nicht genau weiß, ob es seine U-Bahn ist und mehrmals ein und aussteigt? Oder etwas vergessen hat und in letzter Minute wieder herausspringt? Tatsächlich wird bei Turnit Bibo ein Passagier erst dann eingecheckt, wenn das Fahrzeug sich – mit dem eingecheckten Passagier im Fahrzeug – bewegt.

Doch was ist, wenn jemand an einer Station aussteigt, dann bemerkt, dass es die falsche Haltestelle war und wieder einsteigt? Muss er dann zwei Mal für die Fahrt bezahlen? „Wir haben viele solcher Szenarien in unseren Algorithmus eingebaut, und all dies berücksichtigt. Das System bucht also zum Beispiel keine zweite Fahrt, wenn der Fahrgast nur kurz aussteigt. Es wird auch erst verrechnet, wenn das Transportmittel ohne den Fahrgast weiterfährt. Das können wir ja erkennen.“

Angeblich würde auch ein Ausschalten des Smartphones während der Fahrt keine Probleme bereiten.

Die Technologie funktioniert, das Problem sind die Smartphones

Darüber hinaus kann die Technologie von Turnit Bibo an verschiedene Abrechnungssysteme angepasst werden, je nachdem wie das Bezahlsystem der “Öffis” in einer Stadt funktioniert. In manchen Städten müssen Fahrgäste pro Fahrt bezahlen, in anderen gilt ein Ticket mehrere Stunden. All das kann individuell integriert werden.

So ist es auch keine App an sich, die Turnit Bibo entwickelt hat. Vielmehr lässt sich die Technologie in bereits existierende Transport-Apps einbauen. Wie das in der Praxis funktioniert wird seit dem 13. November 2017 in der estnischen Stadt Tartu mit 4.000 Probanden unter dem Namen „Jiffi“ getestet.

Das Überraschende an den Tests bisher: Es ist weder der eigene Ortungsmechanismus noch das Bezahlsystem, das Probleme bereitet. Es sind die Android-Smartphones. Denn die meisten Hersteller haben Batteriesparsysteme eingebaut, die nach einer gewissen Zeit das Bluetooth automatisch ausschalten. Dabei konsumiere Bluetooth selbst bei mehrstündiger Nutzung über einen ganzen Arbeitstag hinweg lediglich ein bis zwei Prozent der Batterie, sagt Osula. “Es gäbe natürlich Möglichkeiten, mit unserem Algorithmus einzugreifen und diese Befehle abzuschalten. Aber uns wäre es lieber, wenn wir mit den Smartphone-Herstellern zusammenarbeiten könnten”, sagt Andres Birnbaum, CEO von Turnit zu Mobility Mag. So verhandelt das Unternehmen derzeit mit Herstellern wie Samsung, LG und Sony, um eine Lösung zu finden.

Ein weiteres, unerwartetes Hindernis, waren die Passagiere. „Wir mussten bisher, seit es öffentliche Verkehrsmittel gibt, immer irgend etwas tun, um mitfahren zu können. Für viele ist es daher etwas ungewohnt, sich darauf umzustellen, dass sie jetzt absolut gar nichts tun müssen und irgendeinem System vertrauen sollen.“

Das Vertrauen könnte in der Tat – wie schon im Feldversuch in Dresden – ein Problem sein.

Ist BIBO das Ticketing-System der Zukunft?

Dabei könnte eine solche handfreie Methode für die Passagiere viele Vorteile bringen. Kein lästiges Herumfummeln mehr, um die Fahrkarte hervorzukramen. Keine verpasste U-Bahn mehr, weil man noch ein Ticket lösen musste. Auch Touristen könnten davon profitieren. Denn wie oft stehen Urlauber vor einem Fahrplan in einer fremden Stadt und versuchen – oft noch in einer unbekannten Sprache – zu verstehen, wie sie die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können. All das könnte mit einem BIBO-System einfacher werden.

Doch auch für die Betreiber von öffentlichen Transportmitteln ist solch eine Technologie hilfreich. Wenn Betreiber aber wissen, wie viele Fahrgäste an welcher Haltestelle um wie viel Uhr einsteigen oder aussteigen, können sie Routen effektiver planen, Staus vermieden und den Verkehrsfluss insgesamt effizienter gestalten. Bisher ist es nämlich einfach zu umständlich all diese Informationen zu sammeln. Eine BIBO-Technologie wie sie Turnit bietet, wäre also eine große Hilfe.

Und der Datenschutz? Die Esten sehen’s entspannt…

Nur: Wie sieht es dabei aus mit dem Datenschutz? Diese Verantwortung gibt Turnit Bibo an die ab, die ihre Technologie einsetzen. „Wir liefern lediglich die Anwendung. Welche Daten genau erhoben werden und was die Betreiber anschließend damit machen, können wir nicht kontrollieren.“ Natürlich könnten Hacker solche Datenbanken auch knacken. Das Risiko bestehe aber bei jeder Ansammlung von Daten, nicht nur bei BIBO-Systemen. Besonders beruhigend klingt das alles nicht gerade.

Doch anders als die Deutschen, gehen die Esten mit solchen Themen eher gelassen um. Als beispielsweise in gut 750.000 Ausweise in Estland Sicherheitslücken festgestellt wurden, hat man nicht etwa das System aufgegeben, sondern es verbessert.

Wenn also alles gut läuft in den Tests in Tartu, wird die Stadt höchstwahrscheinlich das Modell für den gesamten ÖPNV übernehmen. Im kommenden Jahr soll die Technologie in Helsinki erprobt werden und dann – das hofft zumindest Andres Osula – in Deutschland. Denn Deutschland ist nicht nur einer der größten Märkte in Europa, hier fing für ihn mit ALLFA auch alles an. „In Deutschland liegen die Anfänge des BIBO-Konzepts und es würde uns natürlich freuen, wenn es unsere Technologie ist, die hier als erstes funktionierendes BIBO-System auf den Markt kommt.“

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Über den Autor

Marinela Potor

Marinela Potor ist Journalistin mit einer Leidenschaft für alles, was mobil ist. Sie selbst pendelt regelmäßig vorwiegend zwischen Europa, Südamerika und den USA hin und her und berichtet über Mobilitäts- und Technologietrends aus der ganzen Welt.

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