Wenn wir die Umstände nicht ändern können, bleibt uns die Entscheidung, wie wir damit umgehen. Das beste Bootcamp in Langmut bietet immer wieder die Bahn, findet Guido Augustin.
Es sollte nach Hamburg gehen, Freitag mittags ab Frankfurt, mit zwei Kindern, zwei Senioren und zwei Erwachsenen. ICE, reservierte Sitzplätze. Hunger, noch 12 Prozent Akku – kein Problem, der ICE hat ja alles. Aber keine Lust, zu fahren. Weil in Basel ein Zug vom Gleis gesprungen ist, bricht das Chaos aus. Es fährt ein IC ohne E. Wie wir nach und nach feststellen durften, war das E nicht das einzige, was diesem Zug fehlte.
Kein Platz, kein Klo, kein Ausgang
Das erste, was fehlt, ist Platz. Offensichtlich fahren hier mehr Menschen mit, als der Zug Sitze hat. Ich bin mir sicher, dass es eine besondere Fahrt wird, als ich den ersten Zugbegleiter frage: „Nur der guten Form halber, die Reservierungen gelten hier nicht, oder?“ und er schrill lacht wie ein untoter Hofnarr. Egal, denke ich, mit unserer speziellen Reisegruppe gehen wir einfach durch den Zug in die erste Klasse.
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Ungefähr eine viertel Stunde später stecken wir fest.
„Wo ist denn die 1. Klasse?“ fragte ich. „Wir stehen auch 1. Klasse“, antwortet ein grauer Lockenkopf lachend.
„Das ist doch zum Verzweifeln, am liebsten würde ich aussteigen“, stöhnt eine schöne Frau. „Das geht nicht“, grinst graue Locke, „die Tür ist kaputt“. Er zeigt auf die Tür neben sich – ein leuchtend orangenes Schild gab ihm Recht.
Dem Zug fehlt nicht nur das E, er hat auch keine 1. Klasse, keinen Speisewagen, manch Wagen hat keine Toilette (kaputt) und nicht jede Tür geht auf. Steckdosen gibt es auch nicht (noch 10 Prozent Akku). In unserem Wagen, wo wir schließlich Notsitze finden, funktioniert die Toilette. Doch dieser Wagen ist so alt, dass es Aschenbecher in der Toilette gab und mitreisende Kinder zum Abteil nicht „Abteil“, sondern „Zelle“ sagen.
Die Passagiere verschmelzen zur Schicksalsgemeinschaft
Dennoch ist die Stimmung gut. Ich kann es ja nicht ändern. Der Zug ist ein unrestauriertes Museumsstück auf einer Fahrt ins Ungewisse. Doch es ist warm. OK, es ist stickig heiß, aber es könnte auch saukalt sein, und draußen liegt Schnee. Immerhin geht also die Heizung. Die Passagiere verschmelzen zur Schicksalsgemeinschaft.
Sie helfen einander, schwere Koffer zu verstauen, machen bereitwillig und stoisch durchlaufenden Mitreisenden Platz. Eine Dame bietet mir eine Powerbank an, um mein iPhone aufzuladen. Klappt leider nicht, falscher Anschluss. Eine alte Frau malt mit fremden Kindern und wird zum Dank ihre Mütze vergessen. Der junge Mann neben der kaputten Toilette einen Wagen weiter öffnet stundenlang jedem Passanten von Hand die Zwischentür, weil sie per Luftdruck eben nicht aufgeht. Menschen lachen ohne Hysterie.
Irgendwann kommt ein Serviceteam, das uns mit Kaffee, Vollkornsnack und Schokolade versorgt. Für 19,70 Euro. Nein, das gehe nicht aufs Haus. Sie könnten ja nichts dafür. Der Hinweis, dass sie das Unternehmen vertreten, das sehr wohl etwas dafür kann, zieht nicht und ich verspreche, die Diskussion zu verlagern. Denn das eine ist es ja, einen widrigen Umstand nicht ändern zu können – das andere, wie man als Anbieter gegenüber seinen Kunden reagiert. Dann wird den Zugbegleitern doch noch heiß – beim Quittung schreiben nämlich. Aber es ist in so einer Situation keine Genugtuung, auch andere außerhalb ihrer Komfortzone zu wissen. Überhaupt merke ich immer mehr, dass mir Neid und Rache fremd werden, was mich wirklich freut.
Auftritt: Mutigster Mann der Deutschen Bahn
Noch vor Kassel eine echte Show-Nummer. Ein Hochtrapez-Wagnis ohne Netz. Der mutigste Mann des ganzen Konzerns betritt leichtfüßig die Bühne: „Guten Tag, hätten Sie Zeit für eine kleine Fahrgastbefragung?“ Sensationell. Kannst du dir nicht ausdenken. Der könnte auch einem Löwen Salatreste aus den Zähnen popeln, eine Döner-Bude vor der Akropolis betreiben und Hells Angels rote Lederherzen auf die Kutte nähen. Ein überwältigend freundlicher Mann, schlauer Blick, klare Sprache, freundlich, bestimmt und gefestigt in seinem Handeln.
Die Fragen sind schnell beantwortet, er bleibt noch etwas bei uns stehen. So kann ich ihn fragen: „Ein Interviewer sind sie aber nicht?“ Er schaut mich staunend an. „So wie Sie reden, wie Sie schauen, wie Sie denken, das macht doch kein Interviewer für Studentenlohn. Sind Sie vielleicht ein Bahn-Vorstand, der mal schauen will, wie es an der Basis aussieht?“ – Er lächelt mich milde an: „So etwas würde unser Vorstand nie tun.“
Ich verteidige die Bahn ja immer, weil ich es für eine gigantische Leistung halte, so viele Züge pro Tag fahren zu lassen und nur in Wolfsburg nicht zu halten. Auch wenn sie dieses Mal so ziemlich alles ausgepackt haben, was sie hatten, um es mir komplett zu verleiden. Doch tatsächlich können wir beim Zugfahren eine wunderbare Lektion lernen, für die wir dankbar sein sollten: Wenn wir die Umstände nicht ändern können, bleibt uns immer noch die Entscheidung, wie wir damit umgehen.
Mehr Gelassenheit für ein längeres Leben
Wir können verzweifelt aus dem Fenster starren, den Zugbegleiter anblaffen und wilde Flüche in unser Handy tippen (genug Akku vorausgesetzt). Wir können aber auch die Dinge hinnehmen, die wir nicht ändern können, und trotzdem – oder gerade deshalb – freundlich zu anderen und damit zu uns selbst sein.
Ich bin überzeugt: Das verlängert das eigene Leben, macht es schöner und färbt ab. Ich bilde mir nicht ein, die Stimmung in dem ganzen Zug gerettet zu haben. Vermutlich trafen als glücklicher Umstand auf diesen Metern in diesem vorsintflutlichen IC-Großraumwagen (mit Klappsitzen!) einfach nur angenehme Menschen aufeinander. Doch unser aller relative Entspanntheit und Freundlichkeit verstärkte sich und half uns allen.
Übrigens gab es in der Toilette unter dem Aschenbecher eine Rasierapparat-Steckdose, über die ich meinen Akkustand soweit erhöhen konnte, dass es für eine MyTaxi-Bestellung bis ans Tagesziel gereicht hat. Alles gut.
[…] Gut, dass es die Bahn gibt […]