In der Serie „Start-up-Check!“ nehmen wir regelmäßig die Geschäftsmodelle von Start-ups unter die Lupe. Wer steckt hinter dem Unternehmen? Was macht das Start-up so besonders und was gibt es zu kritisieren? Heute: Karma.
Start-ups. Das klingt nach Erfindergeist, Zukunftstechnologien, neuen Märkten. Doch in der Realität erweisen sich viele der Neugründungen leider oft als eine Mischung aus einer E-Commerce-Idee, planlosen Gründern und wackeligen Zukunftsaussichten.
Dabei gibt es sie durchaus: Die Vordenker, die an den großen Problemen tüfteln und Geschäftsmodelle revolutionieren. Diese zu finden und vorzustellen, ist die Aufgabe des Formats Start-up-Check. Heute: Karma aus Stockholm.
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Wer steckt hinter Karma?
Karma wurde 2015 gegründet und sitzt in Stockholm. Das vierköpfige Gründerteam besteht aus Hjalmar Ståhlberg Nordegren (CEO), Ludvig Berling (CPO), Mattis Larsson (CTO) und Elsa Bernadotte (COO). Kurz nach seiner Gründung durchlief das Start-up den schwedischen Accelerator Sting. Dieser ist von der Europäischen Union kofinanziert.
Karma hat der weltweiten Lebensmittelverschwendung den Kampf angesagt und bietet eine Plattform an, auf der Restaurants, Supermärkte und andere Händler ihre Lebensmittel verkaufen können, die sie sonst kurze Zeit später wegwerfen müssten.
Gelauncht wurde Karma im November 2016 und ist heute bereits in mehr als 150 Städten in Schweden und außerdem in London im Einsatz.
Bei der jüngsten Finanzierungsrunde in diesem Jahr konnte Karma zwölf Millionen US-Dollar einsammeln. Zu den Investoren gehören neben internationalen VCs wie Kinnevik und Bessemer auch der schwedische Haushaltsgerätehersteller Electrolux, mit dem eine technologische Partnerschaft gestartet wurde.
Insgesamt konnte Karma seit der Gründung bereits 18 Millionen US-Dollar von internationalen Investoren einsammeln.
Karma und seine Gründer sind zwar nicht die einzigen Unternehmer, die Lebensmittel retten, gehören in der internationalen Start-up-Szene aber bereits zu den bekannteren Vertretern. Sie sind auf der diesjährigen Forbes-Liste „30 Under 30“ im Bereich Social Entrepreneurs in Europa aufgenommen worden. In dieser Liste werden die zukunftsträchtigsten Jungunternehmer aufgeführt.
Was macht Karma?
Karma bietet einen Online-Marktplatz für Lebensmittel an, die kurz vor der Entsorgung stehen. Der Handel findet über die Karma-App statt.
Restaurants bieten über Karma ihre unverkauften Gerichte des Tages an, Bäckereien ihr unverkauftes Brot vom Morgen und Supermärkte ihre Lebensmittel, bei denen das Ablaufdatum beinahe erreicht ist. Diese werden für die Hälfte des Originalpreises verkauft.
Um die Lebensmittel einzustellen, registrieren sich die Unternehmen zunächst. Sobald sie einen Artikel einstellen wollen, fotografieren sie ihn oder nutzen ein vorhandenes Foto und geben die verfügbare Anzahl an.
Das Ganze soll, wenn der Artikel vorher bereits schon mal eingestellt wurde, 15 Sekunden dauern. Neue Artikel erfordern laut Karma drei Minuten Arbeitsaufwand.
Die Nutzer sehen in der App über eine praktische Kartenansicht, welche Restaurants oder Geschäfte in der Nähe reduzierte Lebensmittel anbieten. Zusätzlich können sie auch ihren Lieblingsgeschäften in der App folgen und werden automatisch benachrichtigt, wenn diese Artikel einstellen.
Die Verbraucher können die Lebensmittel über die App kaufen und für eine Abholung reservieren. Der Anbieter kann auch auswählen, wann das Essen verfügbar ist. Bei der Abholung zeigen die Käufer die Kaufbestätigung auf ihrem Handy in der App, damit es zu keinen Verwechslungen kommt.
Die Zahlungen werden über den Payment-Dienstleister Stripe abgewickelt. Karma speichert keine Zahlungsdaten. Die Nutzer müssen aber über die App ihre Kreditkartendaten dort hinterlegen. iOS-User können auch über Apple Pay zahlen.
Für Verbraucher ist Karma, bis auf den Kaufpreis des Essens natürlich, kostenlos. Allerdings verdient das Start-up bei jedem Verkauf mit: Händler geben 25 Prozent des Umsatzes, der über die Karma-App generiert wird, an Karma ab.
Zur Qualität des Essens: Die Essen soll hochwertig sein und allen gesetzlichen Bestimmungen entsprechen. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass es unter Umständen nicht mehr so gut aussieht wie Produkte, die man zum Vollpreis kauft.
Was macht Karma so besonders?
In den Industrienationen sind wir daran gewöhnt, alles sofort zu bekommen, worauf wir Appetit haben. Dass das aber nur funktioniert, indem ein riesiges Überangebot bereitgestellt wird, ist vielen Verbrauchern nicht, oder zumindest nicht ständig, bewusst.
Die Zahlen: Das Institut für nachhaltige Ernährung der Fachhochschule Münster hat im Auftrag des WWF untersucht, wie viele Lebensmittel Firmen und Unternehmen hierzulande verschwenden.
Das Ergebnis lässt einen schlucken: 18 Millionen Tonnen im Jahr. Elf davon werfen Haushalte weg, der Rest in der Produktion entsorgt.
Die Zahlen weltweit: Der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zufolge (FAO) werden jedes Jahr 1,3 Milliarden Tonnen genießbare Lebensmittel weggeworfen.
Angesichts der Tatsache, dass es hungernde Menschen auf der Welt gibt, ist das ein unerträglicher Zustand. Gleichzeitig muss man aber hinzufügen: Einen direkten Zusammenhang zwischen der Verschwendung und dem Welthunger gibt es so nicht.
Das sagt unter anderem auch die Hilfsorganisation Brot für die Welt. Das, was wir wegwerfen, würde alleine aufgrund der Transportwege sowieso nicht bei den Hungernden ankommen.
Allerdings gibt es indirekte Effekte: Vieles von dem, was wir wegwerfen, produzieren Bauern in armen Ländern. Das heißt, dass wir landwirtschaftliche Flächen damit unnütz besetzen.
Auch hier wäre es zwar nicht unbedingt gesichert, dass diese Flächen durch Einsparungen unsererseits automatisch die Armen ernähren würden. Allerdings steigt weltweit der Bedarf an Ackerflächen, weil die Weltbevölkerung wächst. Und diese Verschwendung kann sich die Welt grundsätzlich nicht mehr leisten.
Wie beim Start-up-Check über Infarm schon beschrieben, gehen Forscher davon aus, dass schon 2050 die herkömmlichen Ackerflächen nicht mehr ausreichen werden, um die Welt zu ernähren.
Indem wir aufhören, Ackerflächen nur für die Mülltonne zu bearbeiten, stehen diese wieder zur Ernährung frei. Das sollte selbstverständlich sein.
Karma leistet mit seinem Marktplatz einen Beitrag, um dieses Problem in den Industrienationen anzugehen. Dem Start-up gelingt dabei aber vor allem etwas, was vielen soziale Unternehmen nicht auf Anhieb gelingt.
Sie schaffen ein Geschäftsmodell, das nicht nur die Welt verbessert, sondern den Beteiligten, auf die es ankommt, auch einen echten monetären Anreiz gibt, mitzumachen.
Das weggeworfene Essen bedeutet für Unternehmen nämlich auch entgangenen Umsatz. In den Case Studies zeigt das beispielsweise Kleins Kitchen aus Schweden.
Das Unternehmen bietet unter anderem Schulverpflegung und Catering an und hat 2017 9.000 Artikel über Karma verkauft. Das entspricht einem Umsatz von 33.000 Euro. Dieser wäre ohne Karma mit dem Essen auf dem Müll gelandet.
Und so ist dieser Kampf gegen die Verschwendung für die Unternehmen auch nicht bloße Wohltätigkeit, sondern ein Kostenfaktor. Und das nutzt Karma geschickt aus.
Zu erwähnen ist auch noch der CO2-Verbrauch. Diesen reduziert Karma, was wiederum einen Marketing-Wert für die Unternehmen darstellt. Zumindest in Schweden, wo Karma weit verbreitet ist, gibt es so viele Nutzer, dass die App zu einem Marketing-Kanal geworden ist.
Und wem das reduzierte Gericht geschmeckt hat, kommt wahrscheinlich auch mal zum Abendessen ins Restaurant.
Karma holt außerdem das Lebensmittelretten aus der Schmuddelecke. Es gibt ja bereits seit längerem eine soziale Bewegung, die der Essensverschwendung den Kampf angesagt hat. Doch die meisten Verbraucher denken dabei an junge Idealisten, die in Supermarkt-Mülltonnen steigen.
Das ist reichlich unappetitlich und geht für den Normalbürger auch irgendwie am Problem vorbei: Es geht ja gerade darum, dass es Lebensmittel sind, die vollkommen genießbar sind. Wenn ich etwas aus einer Mülltonne fischen muss, ist es das allein psychologisch schon nicht mehr.
Gibt es Kritikpunkte?
Bei Karma ist es wirklich schwer, Kritikpunkte zu finden. Das Start-up hat bereits bewiesen, dass sein Konzept aufgeht. Es gibt mittlerweile 350.000 Nutzer und mehr als 1.500 Unternehmen, die mitmachen.
Und dass es mittlerweile auch in London funktioniert, zeigt, dass nicht nur die Schweden dafür offen sind. Von London aus will Karma dann auch der Rest Europas erobern.
Ein Kritikpunkt, der aber eigentlich eher eine Warnung ist: Bei dem Hype, der um Karma mittlerweile entstanden ist, sollte immer im Auge behalten werden, welche Auswirkungen die App wirklich hat.
Das Dosenpfand ist ein gutes Beispiel dafür. Das ist zwar kein Totalausfall geworden, die Recyclingquote von Einwegflaschen und Dosen ist sehr hoch. Aber: Das Dosenpfand sollte eigentlich Einwegverpackungen verdrängen – und da fällt die Bilanz ernüchternd aus.
Vorstellbar wäre bei Karma, dass Handelsketten diese Art des Handels einfach als zusätzlichen Absatzmarkt nutzen – und gezielt dafür Produkte anbieten und einkaufen. Und letzten Endes noch mehr Lebensmittel verschwenden.
Karma hat zudem angekündigt, dass mehr Handelsriesen als teilnehmende Unternehmen gewonnen werden sollen. Und ob da die gleiche Nachhaltigkeit den Unternehmenskurs bestimmt wie beim Bio-Bäcker in der Nachbarschaft, ist meist schwerer nachvollziehbar.
Fazit
Karma ist noch gar nicht alt und hat schon eine riesige Nutzerbasis. Die Gründer haben die Skeptiker überzeugt, die dachten, niemand kauft diese Art von Lebensmitteln. Das Lebensmittelretten wird so gesellschaftsfähig.
An dem Start-up und seiner App überzeugt auch, wie einfach verständlich die Lösung ist. Das erzeugt ein Gefühl von Transparenz.
Im Grunde hat Karma das, was sehr viele gute Produkte und Lösungen haben. Sie funktionieren so, dass man sich denkt: Das hätte mir auch einfallen können. Ist es aber nicht – und die Umsetzung erfordert natürlich mehr als die bloße Idee.
Im Übrigen ist Karma nicht die einzige App und Initiative, die es zum Lebensmittelretten gibt. Mittlerweile gibt es eine ganze Anzahl davon, von denen einige sehr ähnlich wie Karma funktionieren und die es teilweise auch schon in Deutschland gibt. Darunter zum Beispiel „Too Good To Go“, „ResQ Club“, „Zu gut für die Tonne!“ und „Foodsharing“.
Nachtrag: In einer früheren Version des Artikels haben wir die anderen Apps und Initiativen zum Lebensmittelretten, die es gibt, nicht erwähnt. Einige davon sind nun, beispielhaft, auch aufgenommen worden.
Auch interessant:
Klingt exakt nach „Too good to go“. Wer war denn zuerst da?
Too good to go wurde auch 2015 gegründet…
Danke für Deinen Hinweis! Soweit ich das sehen konnte, sind die beiden ungefähr zeitgleich gestartet.