In dieser kleinen Serie wollen wir in den nächsten Wochen das Fußballspiel unter der Annahme betrachten, dass es ein komplexes dynamisches System ist. Los geht es mit dem ersten Teil: „Chaos & Kontrolle“ im System Fußball.
„Du siehst die Welt nicht so wie sie ist, sondern so wie Du bist.“ sagte einst Anthony Paul MooYoung. Da ich nicht Franz Beckenbauer bin, der sagen konnte: „Geht’s raus und spielt’s Fußball“ – sage ich: Fußball ist für uns bei read-the-game.com ein wunderbares Beispiel für ein komplexes dynamisches System und wir haben Freude daran, anhand von Daten zu zeigen, dass da was dran sein könnte – auch wenn wir hier sportspieltheoretisch und fußballpraktisch nur an der Oberfläche kratzen, werden vielleicht einige Aspekte des Spiels für den geneigten Leser bei der nächsten Partie am Wochenende sichtbar.
Was sind komplexe Systeme? Bei Wikipedia findet man dazu einen wunderbaren Einleitungssatz: „Komplexe Systeme sind Systeme, welche sich der Vereinfachung verwehren und vielschichtig bleiben.“ Ich denke mal, dass jeder Fußballfan dem zustimmen kann. Viele Aspekte des Spiels lassen sich eben gerade nicht aufklären und das macht auch den besonderen Reiz des Spiels aus. Unter anderem deshalb übt der Fußball auf uns so große Faszination aus.
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Einige der Eigenschaften von solchen komplexen Systemen sind:
- agentenbasiert: komplexe Systeme bestehen aus einzelnen Teilen (Spieler), die miteinander in Wechselwirkung stehen, die wiederum lokal stattfinden (zum Beispiel bei einem Zweikampf an der linken Außenbahn im WM Finale 2014) und globale Auswirkungen haben (wenn der geflankte Ball unnachahmlich verwertet wird).
- Nichtlinearität: Kleine Störungen des Systems oder minimale Unterschiede in den Anfangsbedingungen führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der geneigte Fan erinnert sich vielleicht noch an die Serie von 4 Duellen in 19 Tagen im Jahr 2009 zwischen Werder Bremen und dem HSV – fast identische Aufstellungen – völlig verschiedene Spiele (inkl. Ergebnissen).
- Emergenz: Das Auftauchen neuer Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Man könnte sagen: Das Spiel lenkt das Spiel. Die Spieler reagieren und agieren intuitiv auf die Anforderungen, die ihnen das Spiel stellt.
- Pfadabhängigkeit: Das zeitliche Verhalten ist nicht nur vom aktuellen Zustand, sondern auch von der Vorgeschichte des Systems abhängig. Wir können dabei daran denken, dass es beim Fußball eigentlich nie so steht, wie es stehen müsste, wenn man die Konversionsrate von den Teams aus den bisherigen Partien aus Torschüssen, Chancen und Toren heranzieht. Aber die Wirkung des ersten gefährlichen Torschusses in einer Partie oder gar diejenige vom ersten Tor verändert das Spiel.
- Attraktoren: Das System strebt unabhängig von seinen Anfangsbedingungen bestimmte Zustände oder Zustandsabfolgen an, die durchaus chaotisch sein können. Diese Muster sind der Aufhänger für den heutigen Blogbeitrag.
Anmerkung: Diese Eigenschaften lassen sich nicht isoliert voneinander betrachten. Trotzdem wollen wir den Versuch unternehmen, jeweils ein bis zwei Themen in den Fokus zu stellen.
Wie beeinflussen Chaos & Kontrolle das System Fußball?
Der Unterschied zwischen Ballkontrolle & Ballbesitz
Pep Guardiola sagte in einem Interview zu Beginn des Jahres „If every player plays like a jazz musician, it will be chaos.“ Schon lange predigt er die zwei verschiedenen Typen von Spielern: Die einen, die die Ordnung des Spiels herstellen sollen, die anderen kreativen, die Chaos stiften. Aber wie erkennen wir diese Spieler?
Betrachten wir aber das Spiel aber einmal nicht auf Spielerebene, sondern grundsätzlich als System. Trennen wir uns dafür zunächst vom Begriff des Ballbesitzes, und ersetzen ihn durch Ballkontrolle. Die Definition unterscheidet sich in diesem Punkt von Ballbesitz, da bei der Angabe des Ballbesitzes nicht deutlich wird, ob die ballbesitzende Mannschaft auch über die Kontrolle des Balles verfügt.
Der Ballbesitz zeigt uns nämlich nicht, wie sich das Verhältnis von Kontrolle und Chaos verhält. Da dauert das Spiel 90 Minuten plus x Minuten Nachspielzeit. Der Ball rollt aber nur abzüglich aller Spielunterbrechungen, in dieser Saison in der Bundesliga 56 Minuten und 6 Sekunden. Wer sich jetzt fragt, wo er den meisten Fußball für sein Geld geboten bekommt, kann sich folgendes Top-/Flop-3-Ranking (Stand vor dem 25. Spieltag) ansehen.
Der Begriff Ballkontrolle wird von uns als die Möglichkeit verstanden, eine taktische Absicht mit dem Ball umsetzen zu können. Unter einer taktischen Absicht wird ein Handlungsplan verstanden, der auf Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen basiert. Beispiele für die Umsetzung einer taktischen Absicht sind etwa Spieleraktionen wie Pass oder Torschuss.
Die Ballkontrolle einer Mannschaft beginnt also, sobald ein Spieler dieser Mannschaft mit dem Ball eine taktische Absicht umsetzen kann. Andersherum endet die Ballkontrolle einer Mannschaft, wenn kein Spieler dieser Mannschaft mit dem Ball eine taktische Absicht mehr umsetzen kann.
If every player plays like a jazz musician, it will be chaos. (Pep Guardiola)
Hohe Kontrolldauer = hohe effektive Spielzeit
Es existieren mithin zwei Zustände in einem Spiel: Kontrolle (Ballontrolle Team A oder Ballkontrolle Team B) und keine Kontrolle (Chaos). Wir haben in der Bundesliga in dieser Saison ein Verhältnis von ca. 60% kontrollierter Aktionen zu 40% unkontrollierter. Die durchschnittliche Dauer der Ballkontrollphasen, wir nennen sie Episoden, ist 6,5 Sekunden. Danach kommt entweder das andere Team in Ballkontrolle oder es bricht eine durchschnittlich 2,3 Sekunden lange Chaos-Episode an.
Das nachfolgende Ranking zeigt die Top-3/Flop-3 der laufenden Bundesliga-Saison (Stand vor dem 25. Spieltag) in Bezug auf die maximale Kontrolldauer in einem Spiel an. Als Gegenwert zeigt sie die Daten zu der maximalen Gesamtdauer der unkontrollierten Phasen in einem Spiel. Die verschiedenen Spielstile werden hier schon recht deutlich.
Top-3 & Flop-3: maximale Kontrolldauer in einem Spiel
Top-5 & Flop-5: maximale Gesamtdauer an unkontrollierten Phasen
Und was die Teams hinsichtlich ihrer Torschüsse aus ihren kontrollierten Episoden herausholen, sieht man in der folgenden Grafik. Die Ausnahmestellung des FC Bayern München in der Bundesliga wird mehr als deutlich.
Anzahl der Torschüsse in kontrollierten Episoden
Wie dies Einfluss auf die direkten Paarungen nimmt, können wir anhand von folgenden Beispielen zeigen: Das Spiel mit der höchsten effektiven Spielzeit in dieser Saison war Borussia Mönchengladbach gegen den FC Bayern München am 13. Spieltag mit 67m und 12 Sekunden. Das sind jene Teams, die auch sonst die längste durchschnittliche effektive Spielzeit generieren. Das Spiel mit der niedrigsten effektiven Spielzeit war das zwischen Hamburger SV und Werder Bremen am 7. Spieltag: 44 Minuten und 24 Sekunden.
Damit sind wir wieder bei Pep Guardiola und können prüfen , welche Spieler daran beteiligt sind, den einen oder den Zustand zu erreichen. Hier kommt das Top-5-Ranking der Bundesliga (Stand vor dem 25. Spieltag) in Bezug zur Anzahl der Beteiligung an kontrollierten Episoden und unkontrollierten Episoden.
Top-5: Beteiligungen an kontrollierten Episoden
Top-5: Beteiligungen an unkontrollierten Episoden
Achtet doch am Wochenende einfach mal auf einen der zehn Feld-Spieler und beobachtet, wie er im Sinne dieses Blogs oder von Pep Guardiola (oder beiden Perspektiven) für Kontrolle oder Chaos im Spiel sorgt. Viel Spaß beim Lesen des Spiels!