Kennt ihr noch Second Life? Ja, genau, das ehemalige Herzstück des Boom-Themas Virtual Reality. Die Plattform war 2003 an den Start gegangen, gleichermaßen von Nutzern und Medien gefeiert: „Schaut! So sieht die Zukunft aus!“, wurde überall gerufen. Die Mitglieder flogen mit ihren Avataren durch die 3D-Pixelwelt, quatschten miteinander, kauften Klamotten – niemand würde in ein paar Jahren noch das Haus verlassen müssen, um zur Arbeit zu fahren. Es geschieht ja alles direkt im Netz, direkt in Second Life, wo die Millionen locken!
Ich komme auf das Thema, weil die BBC gerade in einem Nostalgie-Anfall einen Rückbesinnungs-Artikel verfasst hat, in dem ganz interessante Details zutage gefördert werden. Unter anderem auch die Feststellung, dass Second Life (wie war ich überrascht) noch nicht gestorben ist und sich – im Gegenteil! – bester Gesundheit erfreut. Dabei deuteten doch alle Indizien auf ein frühes Ableben hin: 2008 sackte die Berichterstattung über Second Life alleine in England um 40 Prozent ab (2007 nahmen noch 600 Artikel Bezug auf die Plattform), American Apparel machte seinen Shop dicht, Reuters zog verschämt seinen Korrespondenten ab. Es war ein klares Verlustgeschäft für alle Unternehmen und Medien, die in Second Life investierten. Im Februar öffnete dann der Plattmacher Facebook seine Pforten, seitdem boomt das schnelle, textbasierte Networking an allen Ecken der Welt. Und vergesst nicht den mobile Zugriff auf diese Netzwerke, der seit ein, zwei Jahren rasant ansteigt. All dies sollte doch ein Todesstoß für Second Life sein – oder nicht?
Eben nicht. Denn abseits des Medieninteresses entwickelt sich das Linden Lab-Projekt prächtig weiter. Erste Indizien für eine langfristige Etablierung gab es bereits 2008. Linden Lab-Chef Mark Kingdon teilte damals mit, dass der „Monthly Repeat Login“, also die Angabe, wie oft sich Nutzer pro Monat bei Second Life einloggen, im September 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent zulegen konnte. Die Zeit, die User auf der Plattform verbringen, stieg ebenfalls um 33 Prozent und liegt nun bei 126 Millionen Stunden. Der einzelne User verbringt nach dem Login im Schnitt 100 Minuten in Second Life – das sind Engagement-Zahlen, von denen Facebook nur träumen kann. Mehr Überraschungen? Bis heute wurden über 18 Milliarden Minuten VoIP-Telefonate geführt, Tendenz stark steigend. Vom zweiten Quartal 2008 bis zum zweiten Quartal 2009 wuchs die Wirtschaft um 94 Prozent, derzeit werden Monat für Monat etwa 50 Millionen US-Dollar bei Nutzer-Transaktionen umgesetzt.
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Also, ihr könnt sagen, was ich wollt – ich verstehe dieses antizyklische Wachstum nicht. Es macht einfach keinen Sinn. Second Life ist ein Ressourcen-verschwendender Zeitfresser mit hohen Einstiegshürden. Doch offenbar juckt das die Nutzer nicht, was – ich schätze – wohl dann doch positiv zu bewerten ist. Manchmal, zu besonderen Anlässen, schafft es die 3D-Welt ja auch heute noch in die Medien. Etwa, wenn die Weihnachtsmärkte eröffnen oder die St.-Georgs-Kirche (keine Sakramente, keine Taufe) auf der Suche nach neuen Gemeindemitgliedern ist. Das sind gelebte Erinnerungen.
(André Vatter)