In jeder Krise steckt eine Chance: Während sich die staatlichen Hochschulen in Deutschland über eine Verschiebung des Sommersemester-Starts aufgrund der Corona-Pandemie Gedanken machten, musste die Wirtschaftshochschule ESCP „unter laufendem Rad“ die Umstellung des Lehrbetriebs von analog auf online bewerkstelligen. In Berlin hat das genau 48 Stunden gedauert. Das sind die Erfahrungen des Rektors.
Die neue Zeitrechnung der ESCP Businessschool begann am 2. März. Mit der staatlich angeordneten vorsorglichen Schließung des Campus in Turin, einem von insgesamt fünf Standorten in ganz Europa, musste die Wirtschaftshochschule innerhalb kürzester Zeit den Lehrbetrieb neu ordnen.
Der Grund: Der Semesterbetrieb ist anders organisiert als an den staatlichen Hochschulen. Die Studierenden schließen im April ihre Vorlesungen ab, haben Prüfungen und wechseln dann ins Praktikum. Der Ausbruch von Covid-19 hat die ESCP, die seit 1973 ein Multi-Campus-Modell lebt, mitten in der Vorlesungszeit erwischt.
ECSP Berlin: Basics schon rechtzeitig gelegt
Schnell war klar, dass wir unseren Lehrbetrieb umstrukturieren müssen, um die Abschlüsse der Studierenden nicht zu gefährden. Ebenso schnell wurden die Sorgen der jungen Leute sichtbar. In Berlin zählen wir derzeit knapp 1.000 Studierende aus rund 50 Ländern, darunter Indien, China, Frankreich, Island und der Elfenbeinküste.
Wir mussten sicherstellen, dass sie vor den Reisebeschränkungen in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Gleichzeitig sollten weder der Semesterabschluss noch der Wiederbeginn im September gefährdet werden. Turin legte vor, Paris, London, Warschau und Berlin zogen je nach Maßgabe der nationalen Entwicklungen nach.
Besondere Faktoren einer Hochschule im Blick
In dieser Situation kamen der ESCP im Allgemeinen und dem Berliner Campus im Besonderen mehrere Umstände zugute, die zur Kultur der Hochschule gehören:
- Die älteste Wirtschaftshochschule der Welt hat eine paneuropäische Seele. Die Beschäftigten und Studierenden verfügen über ausgeprägte interkulturelle Kompetenzen. Sie sind anpassungsfähig und gewohnt, online zu interagieren.
- An der ESCP wurde bereits ein phygitaler Transformationsprozess angeschoben. Das Wort phygital stammt eigentlich aus dem Marketing. Es bezeichnet aber sehr passend die zunehmende Verschmelzung von digitaler und analoger Welt. Denn es kommt nicht nur darauf an, dass jemand technisch dazu in der Lage ist, Online-Unterricht zu erteilen. Er muss auch fachlich fit sein und vor allem mit anderen zusammenarbeiten können.
- Am Lehrstuhl für Interkulturelles Management in Berlin wurde das Serious Game „Moving Tomorrow – An Intercultural Journey“ entwickelt. Auf spielerische Art vertiefen Studierende ihr interkulturelles Verständnis. Wir haben also Kompetenz darin aufgebaut, wie digitales Lernen aussehen kann.
- Am Berliner Campus hatten wir zudem auch vor Corona ausgeprägte Homeoffice-Strukturen, sodass die meisten Beschäftigten technisch gut ausgestattet waren. Fehlende Lizenzen für die verwendete Software Blackboard Collaborate Ultra konnten zügig nachgeordert werden.
- Es gab praktisch niemanden, der sich gegen eine Umstellung auf digitale Lehre verwahrt hätte. Manche hatten großen Respekt davor, mit ihrem Kurs online zu gehen. Inzwischen sind viele sogar beeindruckt von den Möglichkeiten, die das digital teaching bereithält.
Der letzte Punkt war die größte Herausforderung. Jeder Einzelne musste wahrgenommen werden – mit seinen Fähigkeiten, seinen Ängsten, auch seinen Wünschen. Wir haben dafür abteilungsübergreifend zusammengearbeitet, die Professorinnen und Professoren aber auch individuell betreut, ihnen Mut gemacht, Fehler zuzulassen und einfach auszuprobieren.
Was wir daraus gelernt haben
Menschlichkeit und Geduld gehören unbedingt dazu. Auch dafür sind wir hier gut aufgestellt mit einer eigenen Professur zu Fehlerkultur in Unternehmen. Und für besondere Situationen haben wir psychologische Betreuung organisiert. Inzwischen haben 199 Professorinnen und Professoren mehr als 600 Lehrveranstaltungen durchgeführt.
Sicher wird die aktuelle Pandemie dafür sorgen, dass die Digitalisierung in Deutschland und Europa beschleunigt wird. Wir betrachten die momentane Situation, die Ad-hoc-Umstellung auf einen Online-Campus, als ein Reallabor und sind davon überzeugt, dass in einem offenen Ökosystem die besten Potenziale gedeihen.
Schon jetzt entwickeln unsere Dozentinnen und Dozenten Ideen, wie wir die gewonnenen Kompetenzen künftig einsetzen können, um unsere Multi-Campus-Struktur noch besser zu nutzen. Und auch das gehört zu einem Wissenschaftsbetrieb: Einige unserer Wissenschaftler beobachten und analysieren bereits mit großem Interesse, was bei uns passiert.
Der Autor:
Prof. Dr. Andreas Kaplan ist Rektor der Wirtschaftshochschule ESCP am Standort Berlin. Der Wirtschaftswissenschaftler hat sich an der Pariser Universität Sorbonne habilitiert. Seine Forschungsinteressen liegen vor allem im Einfluss der Digitalisierung auf das Hochschulwesen, dessen Zukunft im Allgemeinen sowie in Funktionsweisen von sozialen Medien, der digitalen Kommunikation und der künstlichen Intelligenz. Er gehört zu den weltweit führenden Business- und Management-Autoren.