In Deutschland gilt die Unschuldsvermutung. In erster und letzter Instanz treffen Gerichte hierzulande Entscheidung darüber, ob jemand schuldig ist oder nicht. Doch leider betreibt der digitale Mob immer häufiger eine Lynchjustiz sondergleichen. Eine Entwicklung, die bedenklich ist. Ein Kommentar.
Europawahl 2024: Unsere Gesellschaft radikalisiert sich
Die Ergebnisse der Europawahl 2024 liegen vor. Während die konservative Mitte um die EVP – zu der auch CDU und CSU gehören – hinzugewinnen konnte und die stärkste Partei im Parlament bildet, haben sozialdemokratische, freidemokratische und grüne Parteien deutlich an Zulauf verloren.
Stattdessen haben sich die Wählerinnen und Wähler den politischen Rändern genähert. Sowohl linkspopulistische als auch rechtspopulistische Parteien haben in fast allen Ländern des Kontinents deutlich mehr Stimmen erhalten. Das ist eine Entwicklung, die ernstgenommen werden muss.
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Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst
Hinter der Wählerwanderung steckt eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit der aktuellen politischen Lage – das gilt für Deutschland wie auch den Rest von Europa. Offensichtlich ist die Lage hierzulande sogar noch relativ entspannt. Ein Blick nach Frankreich genügt, um zu sehen, wohin die Unzufriedenheit führen kann.
Doch diese Unzufriedenheit macht sich nicht nur an den Wahlurnen bemerkbar, sondern auch im Internet. Insbesondere in den sozialen Medien verschwindet jegliche Form von einer grundlegenden Kommunikationskultur seit Monaten zusehends.
Digitale Lynchjustiz: Unsere neue Rechtsstaatlichkeit?
Es gibt keinen ausgeglichenen Diskurs mehr. Stattdessen gibt es nur noch ein „Wir“ oder „Ich“ und ein „die anderen“. Je nach Perspektive sind „die anderen“ entweder sofort „Nazis“ oder „links-grün-versifft“ – eine bürgerliche Mitte, einen demokratischen Austausch scheint es nicht mehr zu geben.
Dabei ist der digitale Diskurs für unsere Gesellschaft wichtig. Jeder Mensch hat das Recht – oder sollte das Recht haben – seine Meinung frei zu äußern. Dies jedoch sollte in einem Rahmen geschehen, in dem keine anderen Menschen beleidigt, diskreditiert oder verfolgt werden.
Sylt als Paradebeispiel für die neue Lynchjustiz
Das unsägliche Sylt-Video zeigt prototypisch auf, wie es um unsere digitale Kommunikationskultur bestellt ist. Wenn wir uns den Fall losgelöst von seinem Inhalt anschauen, bleibt eine zentrale Erkenntnis übrig: Die Meute in den sozialen Netzwerken ähnelt einem Schwarm an Piranhas.
Sie zerfleischen Personen, die entweder falsch gehandelt haben – wie im Fall von Sylt – oder entgegen der Meinung der digitalen Gemeinde handeln. Wer etwas macht, das der digitalen Community nicht gefällt, wird digital zerstört. Morddrohungen sind dabei keine Seltenheit. Und das muss sich verändern.
Die Unschuldsvermutung als hohes juristisches Gut
Bei aller Radikalisierung in unserer Gesellschaft müssen am Ende immer demokratische Grundsätze entscheiden. Nicht umsonst gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Das dahinterstehende rechtsstaatliche Prinzip ist denkbar einfach. Eine Person, der eine Straftat vorgeworfen wird – zum Beispiel Volksverhetzung – gilt solange als unschuldig, „bis ihre Schuld rechtskräftig nachgewiesen worden ist.“
Eben jenes Prinzip ist auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. In Artikel 48 steht dort:
Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als Unschuld.
Kurz zusammengefasst: Es ist nicht in Ordnung, öffentlich zu fordern, dass alle Ausländer pauschal abgeschoben werden. Ob es sich um einen Fall der Volksverhetzung handelt, entscheiden in Deutschland allerdings Richterinnen und Richter – und kein digitaler Mob, der ungezügelt seine Meinung kundtut.
Auch digitale Hetzjagden sind Straftaten
Denn so wie Volksverhetzung ein Straftatbestand ist, sind auch Morddrohungen ein Straftatbestand. Wer digital die Forderung verbreitet, einzelne Personen zu töten, ist keinen Deut besser. Die Lynchjustiz erfolgt insbesondere im Internet häufig unter dem Deckmantel der Anonymität.
Aus dem Schatten heraus ist es einfach, vermeintliche Gerechtigkeit zu fordern und zugleich Ungerechtigkeiten zu begehen. Ob die grölende Meute aus Sylt verurteilt wird, entscheidet nicht ein anonymer X-Nutzer, sondern ein Gericht. Ebenso entscheidet letztendlich der Arbeitgeber, ob sie Personen, die derartige Äußerungen treffen, weiterhin beschäftigen wollen oder nicht.
Deshalb bleibt am Ende der Wunsch, dass wir wieder zurück zum digitalen Austausch auf Augenhöhe zurückfinden und dass Beleidigungen, Anfeindungen und Aufforderungen zum Mord oder zu Vergewaltigung strikt untersagt und engmaschig verfolgt werden.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Kommentar. Das ist eine journalistische Darstellungsform, die explizit die Meinung des Autors und nicht des gesamten Magazins widerspiegelt. Der Kommentar erhebt keinen Anspruch auf Sachlichkeit, sondern soll die Meinungsbildung anregen und ist als Meinungsbeitrag durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt.
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vielen Dank für diesen aufschlussreichen Kommentar. Was ich allerdings nicht verstanden habe ist der Begriff der „digitalen Gemeinde“. Hier wäre wohl eher der Plural angemessen.