Ich habe zehn Jahre innerhalb meiner Karriere und ein Buch gebraucht, um erstmals herauszufinden, was ich bin und dass ich darauf stolz sein kann. Seitdem weiß ich: Ich bin eine Neo-Generalistin. Und es falls auch du auf der Suche bist: Schau, ob du ein Neo-Generalist bist.
Aber fangen wir von vorne an. Ich ging mit einem NC in der Tasche aus dem Abi, mit dem mir so ziemlich alle Universitätstüren offen standen. Die Frage war bloß: Was studieren? Eigentlich hatte ich Schule gar nicht so uncool gefunden – eben weil es ja wunderbar viele Fächer gab.
Und Sport war auch noch Teil des Programms – perfekt! Ich hatte jedoch, aus einem Ärzte-Haushalt kommend, immer das Gefühl, ich müsste meine Bestimmung im Sinne von meine Spezialisierung finden.
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So ist unsere Gesellschaft seit jeher geprägt. Sie sucht Spezialisten und mag Schubladen, in die man passt. Menschen ohne Kategorie werden eher skeptisch beäugt. Ein erfolgreicher Karriereweg dagegen definiert sich im immer spitzer werdenden Expertentum. Professorin für … Doktorandin in … Spezialistin der …
Dies entsprach überhaupt nicht meinem Charakter. Ich fand so viele Dinge und Fächer spannend. Der Gedanke, mich für eins entscheiden zu müssen, graute mir.
Auch nach dem Studium: Eine Frage bleibt
Glücklicherweise erfuhr ich – nicht ganz klischeefrei auf meiner dem Abi folgenden Sinnsucher-Weltreise –, dass es einen sehr begehrten, weil damals noch einzigen interdisziplinären Studiengang der Internationalen Beziehungen in Dresden gab.
Ich wurde genommen und konnte auf hohem Niveau endlich alles studieren, was ich wollte, ohne mich nur auf ein Fach konzentrieren zu müssen.
Also: Wirtschaft mit den Wiwis, Internationales und Europäisches Recht mit den Juristen, Politik und Geschichte mit den Geisteswissenschaftlern. Ein paar Kurse waren sogar nur für uns 34 per Hand selektierte Multifunktionsstudenten.
Ganz klar, ein Besuch auf dem Ponyhof waren diese drei Jahre nicht. Wir wurden einfach in alles reingeschmissen und mussten mitstudieren – egal wie lange die anderen Studenten schon dabei waren. Aber wir wurden so umfassend ausgebildet, wie es anderweitig zu diesem Zeitpunkt kaum möglich war.
Das Problem war nur: Nach dem Bachelor-Abschluss ging die Frage erneut los. Musste ich mich nicht zumindest jetzt endlich spezialisieren? Ich dachte darüber nach. Dachte darüber nach, was gut auf meinem Lebenslauf aussehen würde.
Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich nicht nach meinem Lebenslauf zu richten habe sollte, sondern dieser sich ja wohl bitte nach mir. Also studierte ich das Fach, das ich noch nicht so viel studiert hatte, aber unbedingt lernen wollte: So machte ich meinen Master am renommierten Goldsmiths College in Politischer Kommunikation.
Ich fand es großartig. Aber: So begeistert ich doch studierte, so viel ich um die Welt reiste und so motiviert ich die unterschiedlichsten Praktika machte, um so viele Einblicke in die Berufswelt(en) wie möglich zu bekommen, der Zweifel blieb.
Wer oder was bin ich denn nun eigentlich, wenn ich fertig bin?
Währenddessen machte mein einer Bruder seinen Doktor in Elektrotechnik, meine Zwillingsgeschwister fingen wie meine Eltern an, Medizin zu studieren. Ich machte weiter meine Ausbildung zur Multifunktionalistin. Schade nur, dass dieses Wort in der deutschen Karrierebibel einfach nicht existiert.
Nach meinem letzten Praktikum in New York trat ich meinen ersten Job an. Er brachte mich zunächst als Projektmanagerin, später als Länderdirektorin im Bereich Emerging Markets Research und Consulting nach Thailand, Algerien, Tunesien, Indonesien und schließlich in die Türkei.
Ich war 24 Jahre alt und interviewte diverse (Premier-)Minister, Wirtschaftsbosse und Fädenzieher. Ich lernte immens viel, musste von Recherche über Redaktion bis zu Kommunikation, Beratung und Sales alles machen.
Nach knapp vier Jahren war ich weit gereist, hatte für mein Alter so einiges erlebt. Aber: Wer oder was ich nun war, wusste ich immer noch nicht. Ich entschied, zurück nach Deutschland zu gehen. Ich ließ damit auch mein Emerging-Markets-Profil hinter mir zurück. Und probierte mich neu aus.
Was meine Job-Suche mit Langzeit-Singles gemein hat
Für Vural Öger übernahm ich die komplette Organisation seiner Juroren-Tätigkeit in der Fernsehsendung Die Höhle der Löwen. So rutschte ich tief in die deutsche Gründerszene hinein.
Egal ob Investitions-Verhandlungen mit Start-ups (noch nie gemacht), Pressemitteilungen schreiben (noch nie gemacht), Personal Branding (noch nie gemacht), Pressesprecher (noch nie gemacht) oder die Koordination zwischen Sender, Produktionsfirma und uns: Ich war zuständig.
Ich war überall und nirgendwo. Meine Job-Bezeichnung hieß „Director Communications and Business Development“. Alles und nichts.
Nach drei Jahren Öger machte ich mich selbstständig. Erfand mich wieder neu. Karriere Nummer zwei. Ich machte ständig Sachen, die ich noch nie vorher gemacht hatte, einfach weil ich von Leuten angesprochen wurde, die dachten, dass ich das können könnte. Ich konnte dann auch. Und liebte es.
Frei nach Pippi Langstrumpf: „Das habe ich noch nie versucht. Also bin ich mir ziemlich sicher, dass ich das kann!“
Spaßeshalber überlegte ich zwischendurch einmal, wie jetzt wohl mein Lebenslauf aussehen würde – und stellte mir vor, wie jeder Personaler und Recruiter diesen einmal angucken und dann kopfschüttelnd auf den „Nicht vermittelbar“-Stapel legen würde.
So ein bisschen wie ein Langzeit-Single: Zu eigen, will sich nicht festlegen, hat wahrscheinlich Bindungsängste.
„Ich fühle mich sehr unvermittelbar“
Und das trifft es eigentlich auch auf den Kopf: Ja, ich habe Bindungsängste mich festzulegen. Denn nach wie vor bin ich Multi-interessiert, Multi-neugierig. Ich langweile mich schnell und finde daher beständig neue Aufgaben. Ich möchte weiterlernen und neue Herausforderungen meistern. Henry Ford hat einmal gesagt:
Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer der, der er schon ist.
Ich fand mich nie ganz schlecht so wie ich war, wollte mich aber auch nie darauf ausruhen. Aber ich war nun zurück in Deutschland. Hier geht man bestenfalls einen traditionell beamtenhaften Karriereweg: Und der ist mit Sicherheit kein Zickzack-Kurs.
Manchmal wünschte ich mir, wenn mich jemand fragt, auch einfach antworten zu können: Ingenieurin, Ärztin oder Lehrerin. Bei mir hieß es dann immer: „Was ich mache? Ja klar, erzähl ich dir gern. Hast du mal ein paar Minuten Zeit?!?“
Ich überlegte hin und wieder, ob ich meine Selbstständigkeit einmal aufgeben und mich auf einen „richtigen“ Job bewerben sollte. Aber was für ein Job könnte das sein? Wie würde ich mich vorstellen?
„Emerging-Markets-Kennerin mit Vorliebe für Internationale Politik und Wirtschaftsbeziehungen, nebenher Stress-geprüfte Projektmanagerin im Bereich Start-up und Medien und zudem erfahrene Kommunikationsberaterin, Texterin, Buchautorin und achso, kompetente Event-Moderatorin sucht neuen Job als…. ?“
Ich fühle mich sehr unvermittelbar.
Der Neo-Generalist als neue Denkschule
Aber eins hat sich nun, und jetzt komme ich endlich zu meinem Punkt vom Anfang, nach zehn Jahren endlich eingestellt. Ich habe endlich angefangen, stolz auf meine Trans-Disziplinarität zu sein. Und ich entdeckte, dass sich aus den USA kommend ein neue Denkschule etabliert.
New-York-Times-Kolumnist Neil Irwin schrieb 2016 einen Beitrag mit dem Titel: „How to become a CEO? The quickest path is a winding one.“
„Warum man (mindestens) zwei Karrieren haben sollte“, titelte der Harvard Business Review 2017. Im gleichen Jahr erschien das Buch* „The Neo-Generalist“ von Kenneth Mikkelsen und Richard Martin.
Ich stieß vor ein paar Wochen zufällig darauf. Es war für mich wie die Entdeckung eines kleinen Schatzes. Allein der Untertitel „Where you go is who you are“ reichte, um das Buch sofort zu bestellen.
Ich schlug es auf und las:
The neo-generalist defies easy classification. They are tricksters who travers multiple domains, living between categories and labels. Encompassing rather than rejecting, the neo-generalist is a restless multidisciplinarian who is forever learning. They bring together diverse people, synthesising ideas and practice, addressing the big issues that confront us in order to shape a better future.
Der Neo-Generalist: Spezialist und gleichzeitig Generalist
Ich hatte es gefunden. Endlich eine Definition, endlich eine Schublade. Nämlich die Erkenntnis: Keine Schublade zu haben, das ist auch absolut in Ordnung. Mikkelsen und Martin argumentieren, dass Neo-Generalisten es schaffen, gleichzeitig Spezialist und Generalist zu sein.
Denn, sie arbeiten sich immer wieder in neue Tiefen ein, werden zu Spezialisten in diesen, bleiben jedoch nicht dort, sondern sind wie Reisende, die immer weiter ziehen und lernen. Endlich hatte es jemand verstanden!
Ich war viele verschiedene berufliche Etappen gegangen, jedoch waren diese nie unüberlegt gewesen, nie beliebig. Im Gegenteil: Ich hatte vor meiner Selbstständigkeit spannende Führungspositionen ausgeführt und mich in meinem Generalistentum auch immer tief in Spezialgebiete eingearbeitet.
Nur war ich eben nicht dort verweilt. Doch war aus diesem Karriere-Zick-Zack auf Papier – das heißt aus meiner Vita – ein Paket geworden, das es unmöglich macht, ein Label darauf zu setzen.
Und eins steht fest: Unsere Gesellschaft ist absolut besessen von Kategorien, Job-Titeln, Organigrammen und Rangordnungen. Schöner wäre es, weniger in Grenzen zu denken, sondern in fluiden Strukturen und Möglichkeiten, die durch transdisziplinares Denken entstehen.
Mikkelsen und Martin erklären Neo-Generalisten so:
The neo-generalist, then, is both generalist and specialist, switching between the two as required. Neo-generalist bring unique perspectives, blended knowledge and experience from diverse disciplines they perform. But as lifelong learners and inherently curious people, they also demonstrate a facility in switching specialisms. They are fluid and flexible. Their generalist preferences contribute to the development of metaskills, boundary-crossing capabilities that are essential as we respond to big issues or take advantage of unforeseen opportunities.
Lieber Neo-Generalist, liebe Neo-Generalistin: Wandelt euch weiter!
Die Autoren Kenneth und Mikkelsen warnen in ihrem Buch zudem vor dem Spezialisten-Denken („Hyperspecialism“), das nach wie vor die Arbeitswelt beherrscht. Sie argumentieren, dass Generalisten wichtiger seien denn je.
Denn sie bringen, wie oben argumentiert, Weitsicht, Erfahrungen aus vielen verschiedenen Feldern und einen frischen Blick auf oft eingefahrene Arbeitsprozesse. Sie sind visionär, denken zukunftsorientiert, produzieren neue Ideen, experimentieren.
Und das ist richtig: Es liegt auch eine Fähigkeit darin, eben keine Inselbegabung zu haben, sondern diejenige zu sein, die schnell auf einer neuen Position eingesetzt werden kann.
Die wandelbar ist und sich gerne in neue Anforderungsbereiche einarbeitet. Die als Schnittstelle zwischen Abteilungen und Menschen fungiert. Die immer wieder in komplett unbekannte Wissensgebiete vorstößt. Das ist nicht Jedermanns Sache. Gut so!
Aber diese Energie, um neue Dinge anzustoßen, die Willenskraft und Strebsamkeit um diese dann auch erfolgreich zu meistern, die haben gute Neo-Generalisten. Sie müssen es dafür aushalten, nie ganz sicher auf ihrem Posten zu sein. Vielleicht brauchen oder wollen sie diese Sicherheit jedoch auch nicht.
Ich befinde mich gerade in Karriere Nummer vier. Manchmal denke ich, ein wenig Bequemlichkeit und ein bisschen auf der Stelle zu verweilen, das hätte vielleicht auch etwas. Doch dann kommt mir eine neue Idee oder ich werde für ein spannendes innovatives Projekt angefragt.
Da kitzelt es mich wieder und ich muss los zu neuen Ufern.
Liebe Neo-Generalisten. Habt weiter den Mut, habt weiter die Neugier, wandelt euch weiter!
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