Gestern war für mich ein nicht so besonders schöner Tag. Ich stand in Kontakt mit einer Freundin, die mir berichtete, dass der Vater ihres Freundes soeben verstorben sei. Das wühlt bei mir immer Erinnerungen auf, die man nicht so gerne im Kopf hat. Gleichzeitig habe ich meine eigenen Baustellen, die mich derzeit ein wenig lähmen und beschäftigen.
Es war also einer dieser Tage, an denen man für jede Ablenkung dankbar ist und eine gute Möglichkeit, gedanklich ein wenig abzutauchen, ist für mich immer Binge-Watching auf Netflix oder Amazon Prime. Mir wurde auf Netflix „After Life“ vorgeschlagen. Ich hatte bereits auf dem Schirm, dass eine neue Serie von und mit Ricky Gervais im März anlaufen würde, hatte mich aber nicht damit auseinandergesetzt, worum es dabei ging.
Muss man bei Gervais eigentlich auch nicht, finde ich. Ich bin großer Fan dieses Mannes und bin generell immer sehr angetan von dem, was er tut. Ich mag seinen zynischen, oft bitterbösen Humor. Ich liebe ihn seit „The Office“, was ja auch die Blaupause für die deutsche Serie „Stromberg“ darstellt, aber ich feiere auch ab, was er beispielsweise als Host bei den Golden Globes angestellt hat und wie er oft auf Twitter unterwegs ist.
In „After Life“ spielt er die Rolle des Tony. Aber er hat in der Serie nicht nur die Hauptrolle übernommen, sondern auch die Story selbst geschrieben, hat Regie geführt und produziert. Die erste Staffel, die aus sechs Folgen mit je 25 Minuten besteht, trägt also von vorne bis hinten Gervais‘ Handschrift. Hier ist der Trailer:
After Life: Die Serie ist liebenswert unangenehm
Ab diesem Punkt werde ich auch über die Story konkret sprechen und daher auch spoilern. Falls ihr euch diesen Spaß beim Binge-Watching also nicht nehmen lassen wollt, müsst ihr wohl oder übel aufhören zu lesen.
Im Bild seht ihr die glückliche „Familie“ Tonys: Er ist am Strand mit seiner Frau Lisa und ihrem Hund, den er ihr irgendwann geschenkt hat. Der Screenshot stammt aus einem der zahlreichen Rückblicke, denn Lisa ist tot.
Die Serie beginnt damit, dass er sich ein Video ansieht, in welchem seine Frau ihm eingangs sagt: „Wenn Du das hier siehst, bin ich schon längst nicht mehr da“. In der Tat ist seine geliebte Frau nach 25 gemeinsamen Jahren an Krebs gestorben. Erinnert euch an die Einleitung dieses Artikels und ihr könnt euch denken, dass mich das direkt ein wenig getriggert hat und ich überlegt habe, ob es wirklich so eine gute Idee war, mir ausgerechnet für heute diese Serie vorzunehmen.
Aber natürlich blieb ich dran, dafür schätze ich Gervais einfach zu sehr. Und es sollte sich auch auszahlen, weil die Geschichte einfach wunderbar erzählt wird. Tony ist also frischgebackener Witwer und kommt nur sehr schlecht mit der neuen Situation zurecht. Er ist sehr zynisch, sehr griesgrämig und zudem auch sehr schlecht organisiert.
Lisa ahnte so etwas, denn in ihrem Video, welches sie kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat, gibt sie ihm viele Tipps. Immer wieder sehen wir Ausschnitte aus diesem Video. Mal gibt sie ihm Tipps, wie er mit dem Verlust umgehen soll, mal erklärt sie ihm aber auch ganz simple Dinge im Haushalt, von denen sie befürchtet, dass sie ihn überfordern könnten.
Tony schreibt in dem britischen Küstenort für ein lokales Gratis-Blättchen namens „Tambury Gazette“ und hält weder von der Zeitung noch seinem Vorgesetzten — sein Schwager — oder seinen Kollegen sonderlich viel. Übrigens hält er auch von sich selbst nicht viel und seinen Lebensmut hat er auch verloren, so dass er jeden Tag bestaunt, an dem er sich nicht das Leben genommen hat.
[mg_blockquote]Ein guter Tag ist, wenn ich nicht rumlaufe und irgendwelchen Fremden ins Gesicht schießen will – und gleich danach mir auch![/mg_blockquote]Die Story lebt natürlich von der Rolle, die sich Gervais perfekt auf den Leib geschrieben hat, aber auch von den vielen schrägen und liebenswerten Charakteren, die Tony umgeben. Da ist der verfressene (und ein bisschen ekelhafte) Kollege, sein drogensüchtiger Bekannter, die „Sexarbeiterin“ (die er für 50 britische Pfund zuhause bei sich putzen lässt), sein Seelenklempner und noch einige mehr. Ebenfalls sehr skurril und gleichzeitig liebenswert: Sein Vater, der in einem Pflegeheim wohnt und sich die meiste Zeit weder an sein Leben noch an seinen Sohn erinnert.
Auch die Frau, die diesen Vater betreut, muss mit dem zynischen und missmutigen Tony zurechtkommen und im Laufe der Staffel werden sie sich sogar näherkommen. So, wie Tony übrigens immer mal wieder bei seinem Dad für einen kurzen Besuch vorbeischneit, wiederholen sich auch einige andere Orte, so dass man fast ein wenig an die Truman Show erinnert wird. Das Pflegeheim, der Schulhof, auf dem er stets den Sohn seines Schwagers und einen fetten, kleinen Jungen antrifft, die Praxis seines Therapeuten und natürlich die Redaktion der Tambury Gazette stellen immer wieder den Rahmen dar für die Demonstration, wie arschlochmäßig sich ein trauernder Mann benehmen kann.
Tony selbst sieht seine Beleidigungen und seinen Hass aufs Leben aber auch als eine Art Superkraft: Seit dem Tod Lisas nimmt er kein Blatt mehr vor dem Mund, hält sich nicht an Konventionen und scheißt auf gutes Benehmen. Er sagt im Grunde stets nur die Wahrheit, aber die tut oftmals eben besonders weh. Er sieht es als seine Superkraft an, weil er ja seinen Lebensmut eh verloren hat. Wenn also bei seinen zahlreichen Versuchen, den ganzen Ort und dessen Bewohner mit seinem Zynismus zu überziehen, irgendwann mal was schiefgehen sollte, kann er sich schließlich immer noch umbringen und seinen ursprünglichen Plan umsetzen.
Dass er überhaupt noch lebt, liegt im Grunde nur an dem Hund, um den er sich jetzt kümmern muss. Das zumindest erzählt er jedem, der es hören will. Eines dieser immer wiederkehrenden Szenarios ist der Friedhof, auf dem seine Frau begraben liegt. Dort lernt er eine ältere, aber sehr lebensfrohe Dame kennen, die dort ebenfalls das Grab ihres Mannes besucht. An diesem Grab unterhalten sich die beiden immer wieder und gerade bei diesen Dialogen bekommt man mehr und mehr eine Ahnung davon, dass unter der zynischen und böswilligen Hülle immer noch der liebenswerte Mann steckt, der Tony an der Seite seiner Frau gewesen ist.
Witzig, zynisch, traurig und cheesy
Trotz des ernsten Themas muss man immer wieder lachen oder zumindest staunen. Lachen über die staubtrockene Scheißegal-Art von Ricky Gervais, der sich mit jedem anlegt, der nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Staunen muss man über die Skurrilität der ganzen Geschichte, beispielsweise wenn die Lokalreporter zu ihren Außeneinsätzen antreten.
In dem Ort passiert nämlich herzlich wenig, was natürlich auch die Zahl der tatsächlichen Schlagzeilen einer Lokalzeitung ziemlich überschaubar hält. Also macht man sich auf den Weg zu den Bürgern, die sehr schräge Versuche unternehmen, um in die Zeitung zu kommen. Ein Beispiel: Das Muttersöhnchen, das sich beigebracht hat, auf zwei Flöten gleichzeitig zu spielen — mit seiner Nase!
In seiner ganzen Arschlochhaftigkeit ist Tony aber auch immer ein kleines bisschen liebenswert und für uns als Zuschauer in seinen Reaktionen nachvollziehbar. Beispielsweise, wenn er sich über den dicken Jungen ärgert, der dem Sohn seines Schwagers das Leben schwer macht (okay, dennoch hätte er diesen Jungen nicht mit einem Hammer bedrohen müssen). Oder, wenn er versucht zu ergründen, wieso er im Restaurant keinen Kinderteller bestellen darf. Er schlägt sich mit Problemen des Alltags herum, die wir alle kennen und bei denen wir uns vielleicht alle fragen, wieso die Dinge genau so sind. Aber im Gegensatz zu uns überspannt er stets den Bogen und drückt aufs Gas, wo wir uns in unseren Leben lieber zurückhalten.
Am Anfang staunt man noch über dieses bunte Sammelsurium an merkwürdigen Charakteren im Umfeld von Tony. Aber je länger ihr der Serie folgt, desto mehr könnt ihr dabei zusehen, wie ihm diese Gestalten dennoch irgendwie mehr ans Herz wachsen und mehr und mehr den Tony zum Vorschein bringen, der er mal war.
Das ist für mein Empfinden auch der größte Unterschied zu früheren Charakteren, die Gervais verkörpert hat (ich denke dabei vor allem an den David Brent aus The Office): Während Gervais in seinen Rollen sonst immer noch versucht, dass die von ihm verkörperten Verlierer sich dennoch irgendwie als Gewinner fühlen können, geht Tony dieses Talent völlig ab. Er versucht also gar nicht erst, eine Fassade aufrechtzuerhalten.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, wieso die Serie zum Ende hin immer sentimentaler wird — und sogar ein wenig cheesy. In den Gesprächen mit seinen Bekannten hören wir immer wieder Weisheiten und Tipps, die uns allen grundsätzlich vermutlich klar sein sollten. Man muss halt die Zeit nutzen, die einem bleibt und sollte bemüht sein, das Leben der anderen zu verbessern.
Wie gesagt: Das ist zuweilen ein wenig cheesy und für Gervais‘ Verhältnisse fast zu versöhnlich, aber es passte — zumindest mir — perfekt in den Kram. Ich habe euch ja gesagt, wieso mich dieser Tag zu so düsteren Gedanken geführt hat und „After Life“ war der perfekte Ausweg aus diesen Gedanken, womit ich jetzt zu meinem Fazit komme.
After Life: Mein Fazit
Manchmal bin ich sehr nah am Wasser gebaut: Ich hab bei 13 Reasons why geheult und beim Tod von Winnetou. Ich heule, wenn ich an meine tote Mama denke oder wenn ich darüber nachdenke, wieso ich am Freitagabend wieder einmal nur einen riesigen Eimer Eis umarme und nicht etwa einen Menschen an meiner Seite. Ach ja, manchmal heule ich auch, wenn ich mir den Fußball meiner Schalker anschaue, wie ihr euch denken könnt.
So ist es also kein Wunder, dass ich auch bei einer Serie heulen muss, in der es um den Tod geht, um Depressionen, um Trauerbewältigung, um Selbsthass und um verpasste Chancen. In diesem Fall fühlt es sich aber ein wenig anders an, weil man manches mal eben auch so herzhaft lachen oder ergriffen lächeln muss. „After Life“ deckt diese ganze Palette perfekt ab und spätestens nach der sechsten Folge könnt ihr als aufmerksamer Zuschauer nachvollziehen, wieso Gervais das Genre seiner Serie als „Dark Comedy“ bezeichnet.
Ja, es ist wirklich eine Komödie, aber eben auch Drama und irgendwie alles dazwischen. „Dark Life“ lebt von seinen unglaublich liebevoll angelegten Charakteren, die in der einen Minute so schrecklich abstrus wirken und in der nächsten Minute so vertraut, weil man sich in ihnen wiedererkennt. Die Serie lebt auch von seinen Gegensätzen: Das zynische Arschloch Tony in seinem Alltag und der liebenswerte, lächelnde Tony, wenn er das Video seiner toten Frau betrachtet zum Beispiel, oder der graue und langweilige Alltag des Lokaljournalisten und dieser unglaublich idyllische und sonnige Küstenort, in welchem sich dieser Alltag abspielt.
Gervais verquirlt das für mein Empfinden perfekt miteinander. Es ist ein Drahtseilakt zwischen bösem Zynismus und herzergreifendem Drama, zwischen Gags, Zoten und feinen Dialogen mit allerlei Lebensweisheiten. Fast geht die Serie ein bisschen zu versöhnlich zu Ende und man wartet förmlich darauf, dass Tony es zum Ende noch einmal komplett versaut. Aber vielleicht hebt er sich das ja für eine hoffentlich erscheinende zweite Staffel auf.
Auch technisch ist das Ganze wirklich stark gemacht: Die Geschichte wird toll erzählt in oft schönen Bildern, die Beziehung zwischen Lisa und Tony mit Rückblicken nachvollziehbar gemacht und nicht zuletzt rundet ein sehr schöner Soundtrack das alles ab. Ich hab mir „After Life“ am denkbar falschesten Tag angeschaut und bin froh, dass ich es getan hab. Würde man sagen, dass die kleinen Weisheiten der Serie einem helfen, sein eigenes Leben besser in den Griff zu bekommen, dann wäre das einige Nummern zu groß ausgedrückt. Aber was die Serie definitiv kann: Euch daran erinnern, dass ihr all diese Weisheiten im Grunde kennt und ihr euch lediglich hin und wieder darauf besinnen müsst.
Für diejenigen, die das persönlich nicht so sehr anfasst wie mich, ist es aber immer noch eine äußerst unterhaltsame Geschichte, in der Gervais mal wieder all das abruft, wofür ihn seine Fans so lieben. Wenn ihr jetzt also von mir abschließend wissen wollt, ob man sich „After Life“ anschauen sollte: Ja, absolut – beide Daumen nach oben!