Nachdem ich beim Einlass mit einem Augenpatch versorgt wurde und mich auf das wüstenartige, staubige Konferenz-Gelände begab, klang mir schon das erste, lauthals gebrüllte AAAAAARRRR entgegen: Der Schlachtruf der Piraten, der uns Teilnehmer die kommenden zwei Tage begleiten würde. Ich hatte keine Zweifel, dass es sich hier nicht um eine typische Start-up-Konferenz handelt. Was macht den Reiz des ominösen Pirate Summit aus, von dem ich schon seit ein paar Jahren höre? Ich mache mich auf Spurensuche.
Das Odonien
Egal, ob man sich mit einem Immobilienberater oder Event-Organisator unterhält, zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren zählt: Location, Location, Location! Die Piraten haben sich für ihre jährliche Hauptversammlung einen Künstler-Schrottplatz ausgesucht, der leicht an das berühmte Burning-Man-Festival erinnert.
Obwohl im Kölner Stadtzentrum gelegen, hat man das Gefühl, den hiesigen Planeten zu verlassen und in eine eigene Welt einzutauchen. Da sind längst in Rente gegangene Schulbusse, Kunsttürme aus altem Metall, kleine Tüftlergaragen mit seltsamen Reliquien aus undeutbarer Vergangenheit, ausgewaschene Sofas, eindrucksvolle und kunstvoll hergerichtete Statuen aus altem Schrott.
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„Jedes Jahr wenn wir den Pirate Summit austragen“, sagt Organisator Till Ohrmann, „habe ich das Gefühl, wir müssen das Odonien erst einmal bezwingen.“
Hier werden ansonsten Musikfestivals oder Kunst-Events veranstaltet, kaum aber eine Unternehmerkonferenz. Und doch verstehen es die Macher, diesen Ort in ein Zentrum des Austauschs zu verwandeln, der dem Pirate Summit seine einzigartige Atmosphäre verleiht.
Der 8. Streich
Seit 2011 findet der Summit statt. Doch im Gegensatz zu anderen Konferenzen haben die Organisatoren die Teilnehmerzahl bewusst konstant gehalten. Rund 1.000 Teilnehmer aus 62 Ländern sind in diesem Jahr zusammengekommen.
Sie sind handverlesen, denn dabei sein kann nur, wer sich vorher bewirbt und angibt, warum genau er oder sie beim Pirate Summit richtig am Platz ist. „Klasse statt Masse“ ist die Devise.
So sind es nicht nur die üblichen Verdächtigen der Gründerszene, die hier aufeinandertreffen, sondern beim geschulten Adlerblick auf die Namensschilder fallen einem immer wieder Unternehmen auf, die man sogleich auf seine imaginäre „Später mal googeln, was sich dahinter verbirgt“-Liste aufnimmt.
Oder man spricht die Person einfach gleich an. Das funktioniert hier ganz hervorragend, denn Leute, die denken, sie seien etwas besseres und müssten sich nicht die Zeit für einen Austausch nehmen, sind von vorneherein ausgeschlossen. Strenge Tür. Piratenehrenwort.
Sinn und Zweck des Pirate Summit
Der Pirate Summit steht für „meaningful exchange“ und richtet sich vor allem an frühphasige Start-ups, die den nächsten Schritt gehen, viel dazulernen – und neue Kontakte knüpfen wollen.
„Wir verfolgen dabei das Peer-to Peer-Prinzip statt Einzelpersonen auf eine Bühne zu stellen und erzählen zu lassen, wie toll sie sind“, erzählt mir Chefpirat Till im Gespräch. „Im Gegenteil: Wir suchen Leute, die Freude daran haben, ihr Wissen und Können mit Anderen zu teilen. Darum sind wir hier!“
Agenda
Die Konferenz ist daher in kleine „Campfire Chats“, „Masterclasses“ und „Clinics“ aufgeteilt. In den Campfires, die in kleinen Indianer-Zelten stattfinden, diskutieren zehn bis 15 Teilnehmer ein bestimmtes Thema gemeinsam mit dem Moderator.
„Do we need a European Unicorn?“ oder „How can we help urban tech startups for impact?“ sind nur zwei der vielen und abwechslungsreichen Lagerfeurdiskussionen. (Alles auf dem Pirate Summit findet der Internationalität geschuldet auf Englisch statt).
In den Masterclasses gehen Experten in die Tiefe und geben ihr Wissen zu Online Marketing, Finanzierung, Künstliche Intelligenz oder Business Development an die Teilnehmer weiter.
Workshops wie „Understanding Customer Journeys on Facebook“ oder „From 20 to 200 in four years. An honest conversation about startup growth“ seien hier beispielhaft zu nennen.
In den „Kliniken“ wiederum können konkrete Herausforderungen oder aktuelle Fragen von den Start-ups eingereicht und „behandelt“ werden: „Entering new markets“, „Growth Hacks“ oder „Venture Hacks“ sind hier übergeordnete Kategorien.
Bestechend, denn welches junge Start-up lässt sich nicht gern einmal von Holtzbrinck Ventures zum Thema Unternehmenskultur oder Finanzierung therapieren?!
Dialog statt Monolog
Eins ist schnell ersichtlich: Interaktivität wird überall groß geschrieben. Eine Berieselung durch stundenlange Monologe findet man auf dem Pirate Summit nicht.
Um genau zu sein, finde ich in Summe überhaupt nur drei Keynotes oder Panels. Und auch hier ist der Tiefgang wichtig: Im Gespräch mit Tech.eu-Redakteur Robin Wauters gibt Fabian Heilemann von Earlybird Ventures Einblicke in seine wichtigsten Lernmomente aus 15 Jahren Unternehmertum. Beispiele gefällig?
- Er habe lange gebraucht, um zu merken, dass die Priorisierung „Culture over strategy over execution“ entscheidend ist, gibt uns der Daily-Deal-Gründer weiter. Warum? Strategie und Ausführung lassen sich immer optimieren, die Kultur eines Unternehmens jedoch nur sehr, sehr schwerlich, so Heilemann. Darauf achtet er daher heute bei seinen Investments: „Die DNA des Start-ups muss stimmen!“ Sie entscheide zu einem Großteil mit über den Erfolg eines Unternehmens.
- „Fundraise when you least need the money.“ Setze also deine Finanzierungsrunde in einer starken Unternehmensphase an, sodass du die Kontrolle über die mögliche Investition behältst, es nicht zu nötig hast und dich daher auf schlechte Deals einlassen musst. Kenne deinen Investor bestenfalls schon länger, baue also früh ein Netzwerk auf. „Perfekt, dann sind wir ja hier richtig“, werden sich viele Piraten-Neulinge gedacht haben.
Pitch Perfect
Eins durfte jedoch selbst auf dem alternativen Pirate Summit nicht fehlen: ein Pitch-Contest. Genau drei Minuten haben die Start-ups Zeit, sich der Jury zu präsentieren. Weitere drei Minuten gibt es für Fragen und Antworten. Alles kurz und knackig!
Nach fünf Runden aufgeteilt in die Kategorien „Fintech/Insurtech“, „E-Commerce“, „SaaS“, „Blockchain/Data“, „AI/DevTools“, „Consumer/Social“ und einem finalen Pitch gab die Jury den überraschenden Gewinner bekannt: An Skoove aus Berlin, ein Start-up für Online-Klavierkurse, geht der diesjährige Schatz der Piraten!
Die Teilnehmer
Neben dem Wissenstransfer und dem Austausch innerhalb der Gründergemeinschaft soll auch der Dialog zwischen Start-ups und Grown-ups gefördert werden. So sind auch ausgewählte Venture Capitalists und Dienstleister vor Ort ein, die sich in Jeans, Sneaker und Shirt unter die Piraten mischten.
Wie schön: Hier können selbst Investoren noch Mensch sein. „Die Atmosphäre ist hier so locker und entspannt, dass man leicht ins Gespräch kommt“, sagt Santosh Satschdeva von My Schlepp App, der gerade eine Finanzierungsrunde vorbereitet.
Er ist zum ersten Mal dabei und zufrieden: „Alle nehmen sich Zeit und so hatte ich viele interessante Gespräche und Anbahnungen“.
Für die Investoren dagegen selbst ist es wichtig, nicht nur in Gründermetropolen wie Berlin nach Start-ups zu schauen: „Auch in den anderen Städten tut sich gerade viel und gerade im Rheinland entsteht ein interessantes Ökosystem mit vielen neuen, aber auch schon etablierten Start-ups“, sagt Enrico Mellis von Project A.
Julius Lühr von Acton Capital Partners aus München fügt hinzu: „Auch wenn hier viele Early-Stage-Start-ups unterwegs sind, ist es unerlässlich für uns, präsent zu sein. Der Pirate Summit ist eine super Gelegenheit, um Talente möglichst früh entdecken. Wir investieren zwar später, bauen aber gern schon lange eine Beziehung zu den Gründern auf, lassen uns von ihnen auf dem neuesten Stand halten, begleiten sie über einen längeren Zeitpunkt. Wir kommen daher immer gerne her.“
Das Motto
Der Pirate Summit steht dieses Jahr ganz im Sinne des Mottos „Purposeful disruption“. Nicht weniger als der unternehmerische Zeitgeist wird in Frage gestellt. Wie wirtschaften wir? Und für wen eigentlich? Wofür? Wie entwickeln wir uns nachhaltig weiter?
Heraus kommen zum Glück keine esoterischen Selbstfindungsrunden, sondern konstruktive Reflektion. Die Zwillinge Achim und Adrian Hensen von Purpose Ventures stellten das Prinzip „Ownership“ in Frage.
Viele große Unternehmen wie Zeiss, Alnatura, DM, Voelkel oder Novo Nordisk glauben nicht mehr an klassische Eigentumsstrukturen und übergeben diese an eine Stiftung oder in die Hände der Mitarbeiter. Wo liegen die Vorteile? Wie führt man sein Unternehmen, wenn Profit nur ein Mittel zum Zweck – und nicht das Endziel ist?
Rootstrap-Chef Ben Lee aus Kalifornien stellt Agenturen auf den Prüfstand: Sind diese noch zeitgerecht? Wo ist ihre Innovationsarbeit? Braucht man im digitalen Zeitalter überhaupt noch Agenturen oder steht die Agentur-Apokalypse bevor?
In einem andere Campfire Chat hinterfragt Christian Sauer, CEO von Webtrekk, gängige Marketing-KPIs: Lassen uns die Daten wirklich die richtigen Schlüsse ziehen? Messen wir an den richtigen Stellen?
So durchzog sich die Frage nach Sinnhaftigkeit wie ein roter Faden durch die thematisch bunt gemischte Konferenz: Unternehmensstruktur, Mitarbeiterführung, Marketing, Recruiting, Expansion ins Ausland, Finanzierung versus Bootstrapping, Blockchain. Sinn oder Unsinn?
Mein persönliches Fazit
Spannende und austauschreiche Tage liegen hinter mir. Der Pirate Summit bot eine exzellente Mischung aus Start-ups, Corporates, Investors, eine bestechende Internationalität und Intimität in Industrieromantik: Bisschen Hippie, bisschen alternativ, aber immer nah an der Grundidee des „meaningful exchange“.
Als frequente Konferenzbesucherin gibt es nichts, was mich mehr nervt, als eine Eins-zu-Eins-Übereinstimmung der Sponsoren und Sprecherliste. Will heißen: Wer ordentlich zahlt, darf auf die Bühne und stellt in einem platten Pitch seine Produkte oder Services vor.
Qualitätskontrolle? Keine. Mehrwert für die Teilnehmer? N/A. Erfrischend war hier, dass die Konferenz-Themen und Inhalte nicht eingekauft wirkten, sondern eben diesen gewinnbringenden Austausch im Blick behielten.
Na klar, ohne Sponsoren würden es auch die Piraten nicht schaffen, sich über Wasser zu halten, aber auch diese hatten sich eben an die Regeln zu halten. Hier und da blitzte einmal ein Jutebeutel von Google auf, von Wirecard gab es Cashewnüsse. Flyer- und Kulli-Spamming: Fehlanzeige.
Eine Konferenz, die das „unconference“-Prinzip verfolgt.
Burn, burn
Bei allen guten Vorsätzen sollte natürlich der Spaß nicht zu kurz kommen und so sorgten Bands, gutes Barbecue und die warmen Sommernächte für zwei lange, ausgelassene Abende. Der Höhepunkt des Pirate Summit ist die traditionelle „Burn Ceremony“, bei der eine übergroße Holzfigur, die für schlechte Werte auf der Welt steht, verbrannt wird.
Viel Idealismus, ein bisschen „Wir verändern die Welt-Kitsch“ – schon klar. Aber braucht es das nicht gerade jetzt? Eine Prise Optimismus, ein bisschen Glaube an die eigene Kraft, Dinge bewegen zu können? Ich glaube schon.
„Give, give, give ask ist nicht nur unser Leitspruch, sondern eine Superpower“, sagt Co-Founder Manuel Koelman noch in seinem Abschlusswort. Darauf ein lautes „AAAAARRR“ von allen!
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