Mobilität, vom Dampfschiff bis zur Weltraumstation, wäre nicht möglich, ohne die Menschen hinter diesen Ideen. Einige von ihnen sind Berühmtheiten, andere in Vergessenheit geraten. Genau deshalb möchten wir euch in loser Folge bedeutende „Menschen der Mobilät“ vorstellen. Diesmal geht es um Annie Londonderry, die erste Frau, die mit dem Fahrrad um die Welt fuhr – und die Geschichte ist bizarrer als ihr denkt.
Wir schreiben das Jahr 1894. Zwei reiche Typen sitzen in einer Bar in Boston. Ein Drink führt zum nächsten und schließlich sagt einer: „Ich wette 10.000 Dollar, dass eine Frau in 15 Monaten mit dem Rad um die Welt fahren und dabei 5.000 Dollar verdienen kann!“ „Niemals! Ich halte 20.000 Dollar dagegen“, sagt der andere.
Die Wette wird öffentlich gemacht und spornt eine gewisse Annie Londonderry an, als erste Frau der Welt mit dem Fahrrad um den Globus zu reisen.
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Die Geschichte klingt genauso bizarr wie so ziemlich alles über Annie Londonderry und ihre Reise mit dem Fahrrad um die Welt. Das beginnt schon damit, dass Annie Londonderry gar nicht wirklich so heißt.
Auf Weltreise mit dem Rad nach nur zwei Fahrstunden
Ihr Name ist Annie Cohen Kopchovsky. Sie wandert 1875 als junges Mädchen aus Lettland mit ihren Eltern und zwei älteren Geschwistern in die USA ein. Als sie 17 Jahre alt ist, versterben beide Eltern. Sie heiratet 1888 Simon Max Kopchovsky, einen strenggläubigen Juden.
Gemeinsam haben sie drei Kinder und Annie ist „nebenher“ auch noch berufstätig. Es klingt also sehr unwahrscheinlich, dass ausgerechnet sie die Rad-Wette annimmt.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie vor dem Antreten der Wette lediglich zwei Fahrstunden hatte. Hinzu kommt, dass Annie Cohen Kopchovsky nicht gerade kräftig ist. Als zierliche Frau wiegt sie keine 50 Kilo und ihr Columbia-Rad bringt mächtige 20 Kilo auf die Waage.
Und dann gibt es dann noch das Problem ihres Namens. In einer Zeit, in der Antisemitismus sehr verbreitet ist, erkennt jeder, dass Kopchovsky ein jüdischer Name ist, was für eine allein reisende Frau damit doppelt gefährlich ist.
Doch das Namensproblem wird schnell gelöst. Das Unternehmen Londonderry Lithia, das Wasser verkauft, bietet Annie Cohen Kopchovsky nicht nur Sponsorengelder, sondern – was für ein raffinierter Marketing-Schachzug! – auch einen neuen Namen an, den eigenen Unternehmensnamen. So reist sie ab diesem Zeitpunkt als Annie Londonderry um die Welt.
Fahrrad ist Trend und Freiheitssymbol zugleich
Und die Familie? Es ist nicht klar, was Annie Londonderry dazu bewegt, alles stehen und liegen zu lassen und sich auf große Weltreise zu begeben.
Der Journalist und Autor Peter Zheutlin, der eine Biographie über Annie Londonderry geschrieben hat, vermutet, dass es ihr großer Ehrgeiz war. Annie Londonderry sah sich nie als Hausfrau und Mutter, sondern hatte ihre eigenen Karrierepläne. Sie wollte Journalistin werden.
Wahrscheinlich ist sie auch durch die Frauenbewegung ihrer Zeit motiviert. Denn für die Frauen im 19. Jahrhundert ist das Fahrrad DAS Symbol der Emanzipation. Es gibt ihnen Unabhängigkeit und macht sie mobil.
Frauen ziehen sogar Hosen zum Fahrradfahren an, was in der viktorianischen Ära gelinde gesagt absolut unerhört ist. So wird die Mutter, Ehefrau und Jüdin Annie Londonderry zur Repräsentantin einer ganzen Bewegung.
Darüber hinaus ist Fahrradfahren in den 1890er Jahren – nicht nur für Frauen – unglaublich trendy. Nur wenige Monate vorher war deshalb eine ähnliche Fahrrad-Wette ausgerufen worden.
Der Harvard-Student Paul Jones wollte für 5.000 Dollar um die Welt radeln, scheiterte aber. So titelt die New York Times prompt: „Eine Frau will es mit Paul Jones aufnehmen.“
Neues Rad, neues Outfit – auf geht´s!
Annie Londonderry scheint all der Rummel um ihre Person aber nicht viel auszumachen, ganz im Gegenteil. So tritt sie am 27. Juni 1894 in diePedale, um von Boston nach Chicago zu radeln, wo die Reise offiziell beginnen soll.
Sie orientiert sich dabei am L.A.W., einer Art Lonely Planet des 19. Jahrhunderts für Radfahrer. Hier finden sich Routen sowie Informationen zu Restaurants und Hotels entlang des Weges.
Sie hat keinen Pfennig in der Tasche und radelt mit ihrem bodenlangen Kleid, doch am 24. September 1894 kommt sie schließlich in Chicago an.
Sie ist müde, erschöpft und hat beinahe 10 Kilogramm abgenommen. Sie weiß auch, dass ihr der harte Winter bevorsteht, sodass sie eigentlich fest entschlossen ist, das Vorhaben abzubrechen.
Doch ein Treffen mit dem Fahrradhersteller Sterling Cycle Works kommt ihr zuvor. Das Unternehmen bietet ihr ein neues Rad an, “The Sterling”. Es hat nur einen Gang und keine Bremse, es wiegt aber nur halb so viel wie ihr Columbia-Fahrrad.
Zudem beschließt sie, ihre Garderobe zu wechseln. Sie tauscht ihr Kleid gegen Hosen und ist nun mit ihrem neuen Gefährt sicher, dass sie die Wette gewinnen kann.
Ausgeraubt und ausgelacht
Sie radelt also zurück an die Ostküste, nach New York, um von hier aus mit dem Schiff nach Paris zu fahren. Hier erwartet sie aber kein warmer Empfang. Direkt bei der Ankunft nimmt man ihr den Pass, ihr Rad sowie alles Geld ab und sperrt sie ins Gefängnis.
Die Presse schreibt außerdem eine Schmuddelstory nach der anderen über die unziemliche Frau, die es auch noch wagt in diesen unsittlichen Hosen Fahrrad zu fahren.
Doch Annie Londonderry wäre nicht Annie Londonderry, wenn sie nicht auch aus dieser Situation irgendwie herauskäme. Sie bekommt ihr Fahrrad zurück und macht sich auf den Weg nach Marseille.
Unterwegs bricht sie sich das Bein, sodass ihre Einfahrt ein kurioses Bild ergibt: Annie Londonderry radelt mit einem Bein, das andere ist auf das Lenkrad gelehnt, an dem eine halb zerfetzte amerikanische Flagge hängt.
In Marseille geht Annie Londonderry erneut an Bord. Diesmal geht es mit dem Schiff nach Sydney.
Annie Münchhausen
Dazu muss man wissen, dass die Wette nicht sagt, wie viele Kilometer tatsächlich auf dem Rad zurückzulegen sind. Es muss lediglich eine Fahrt um den Globus innerhalb von 15 Monaten sein.
So legt Annie Londonderry einen großen Teil ihrer Reise per Schiff und Zug zurück. An ihren Stationen fährt sie dennoch mit dem Rad. Diese Stationen führen sie unter anderem über das heutige Sri Lanka, Indien, Saigon, Hong Kong und Japan.
Überall ist sie eine Sensation – was sie sichtlich genießt. Sie liebt die Aufmerksamkeit und zieht die Öffentlichkeit regelmäßig mit wilden Reisegeschichten in ihren Bann.
Sie erzählt von Tigerjagden im indischen Dschungel, von Raubüberfällen in Frankreich und von ihrer eigenen Vergangenheit als Erfinderin einer neuen Methode der Stenographie.
Diese Geschichten sind im besten Fall stark übertrieben, meistens jedoch völlig frei erfunden, was jedoch für ihr Erzähltalent spricht und ihr zudem zahlreiche Einnahmen beschert.
Selbstmarketing wie eine professionelle Influencerin
So schafft sie es, jede freie Fläche an ihrer Person und an ihrem Fahrrad an Sponsoren zu verkaufen. Sie fährt mit Schildern und Bändchen behaftet und ist eine wandelnde Werbefläche für so ziemlich alles von Fahrradreifen bis hin zu Frauenparfüm.
Sie verkauft außerdem Bilder von sich und Autogramme und hält Vorträge über ihre Reise. Annie Londonderry ist damit ihrer Zeit weit voraus und so mancher heutiger Inluencer könnte sich noch so einiges von ihr abschauen.
Am 9. März 1895 geht sie in Yokohama an Bord und am 23. März fährt sie über die Golden Gate Bridge in San Francisco. Für ihre Rückfahrt nach Chicago wählt sie die Route über Los Angeles, Arizona und New Mexiko.
Einen guten Teil kann sie davon zum Glück entlang der Eisenbahnschienen fahren. Das garantiert ihr einen halbwegs asphaltierten Untergrund sowie Möglichkeiten zum Essen und Duschen unterwegs.
Gegen Ende ihrer Tour hat Annie Londonderry dann nochmals Pech: Sie bricht sich ihr Handgelenk im ländlichen Iowa – weil sie gegen eine Horde Schweine fährt.
Annie Londonderry hat es geschafft
Nichtsdestotrotz kommt sie – eine Hand im Gips – am 12. September 1895 in Chicago an und damit sogar zwei Wochen vor dem Ende ihrer Frist. Mit all dem gesammelten Sponsorengeld hat sie die Wette gewonnen. Sie bekommt 10.000 Dollar.
Auch wenn viele kritisieren, dass sie mehr mit dem Fahrrad als auf dem Fahrrad um die Welt gereist ist, zeigt sich Annie Londonderry in Radrennen als ausgezeichnete Fahrerin.
Sie hat es geschafft! Sie hat nicht nur als erste Frau die Welt mit dem Fahrrad umrundet, sie hat sich auch einen Namen gemacht, als Sportlerin, unabhängige Frau und Geschichtenerzählerin. So wird auch ihr Karrieretraum wahr. Sie beginnt als Journalistin zu schreiben.
Ihr erster Satz ist legendär und entspricht ausnahmsweise der Wahrheit: „Ich bin eine Journalistin und eine neue Frau, wenn der Begriff bedeutet, dass ich glaube, dass ich alles tun kann was jeder Mann kann.“