„Digitalisierung“ als Kampfbegriff ist für unsere Zeit so wertvoll wie „Wiederaufbau“ für Trümmerfrauen. Die Suggestion, wir rasten analog auf das Ende der Erdscheibe zu, um unvermeidlich ins Nichts zu stürzen, beginnt in unser kollektives Gewissen zu sickern wie ein lähmendes Gift. Jetzt gibt es eine CSU-Frau, von der ich noch nicht sicher bin, ob es sich lohnt, sich den Namen zu merken. Die macht in Sachen Digitalisierung viel Wind. Kinder in der Schule sollten Programmieren lernen. Wenn da nicht mehr kommt, merke ich mir den Namen eher nicht.
Unsere Schulen, jahrhundertealter Hort des Wissenstrichters, defizitorientiert und verschroben bis ins letzte Lehrerzimmer, Großparkplatz für alte Passat Kombis und neue Toyota Prius – diese Schulen sollen jetzt an der Spitze der Bewegung unseren ABC-Schützen Programmieren lehren, damit wir global nicht in die Bedeutungslosigkeit versinken? Was ein Witz.
Die Schule lehrt keine Spezialdisziplinen
Das geht damit los, dass Programmieren eine Spezialdisziplin ist – und somit die erste Spezialdisziplin wäre, die an allgemeinen Schulen gelehrt wird. Deswegen heißen die Schulen ja „allgemein“ und nicht „speziell“.
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Als würden wir unseren Kleinsten beibringen, wie man eine Magensonde legt, Mondholz artgerecht verarbeitet und den Sandwichboden eines Wohnwagens repariert. Dafür gibt es Spezialisten, auch unter Ärzten, Tischlern und Kfz-Mechanikern.
Kein Kind muss programmieren können. Das machen spätestens morgen früh Maschinen mit künstlicher Intelligenz viel besser als wir. Schneller, fehlerfrei, preiswerter und ohne diese schimmeligen Berge Pizza-Kartons.
Von Stürmern und Mathematikern
Was unsere Kinder bis ins hohe Alter dagegen dringend brauchen, ist das Wissen um das Wesen der Dinge und die daraus resultierenden Zusammenhänge. In dieser Richtung beim Thema „Digitalisierung“ weitergedacht, sind wir ganz schnell bei Logik und Mathematik.
Denn darauf basiert dieses ganze Zeug mit Eins und Null. Ist ein bisschen wie beim Empfehlungs-Marketing, wenn Unternehmer sich freuen, dass sie jetzt so tolle Netzwerke gefunden haben, denn dann müssten sie ja nicht mehr verkaufen.
Klappt ähnlich gut wie beim Mittelstürmer mit chronischer Ladehemmung, der sich freut, dass ein Flankengott in die Mannschaft kommt. Die beste Empfehlung ist wertlos, wenn ich dem Interessenten nichts verkaufe.
Wenn ich das Tor nicht treffe, ist es egal, wie schön die Ballstafette zuvor war – und wenn ich mich aufs Programmieren freue, weil ich in Mathe nie gut war …
Wenn wir nicht aufpassen, geht der Schuss mächtig nach hinten los – dann bauen wir in den Schulen Silos, in denen irgendwie programmiert wird, während sich ansonsten nichts ändert.
Das wäre eine Katastrophe. Es ist so höchste Zeit, dass wir unser ganzes Bildungssystem anpacken müssen – auch mit vielen Feigenblättchen stünden wir noch ziemlich nackt da.
Wofür Lehrer kämpfen müssen
Unsere Schulen können, sollen, dürfen die Digitalisierung nicht länger ignorieren. Aber weder geht es darum, Nerds zu züchten, noch das speckige Lehrbuch durch ein speckiges Tablet zu ersetzen.
Es muss darum gehen, die Motive, die Risiken und vor allem die Chancen unserer Gesellschaft zu durchdringen. Den Rest machen die Kinder, einmal zu mündigen Bürgern erzogen, schon alleine.
Es ist ein bisschen wie bei den richtig guten Reformschulen: Die erwarten von Lehrern nicht, dass sie Kindern Lehrstoff beibringen. Das können die selbst viel besser, wenn sie die vorhandenen (digitalen) Möglichkeiten nutzen.
Die wichtigste und edelste Aufgabe von Lehrern muss doch sein, dafür zu sorgen – und wenn es sein muss, darum zu kämpfen –, dass es unseren Kindern gut geht, dass sie die bestmöglichen Rahmenbedingungen in der Schule vorfinden, um inspiriert, gestärkt und ernst genommen ins Leben zu wachsen.
Wie viele Programmiersprachen sie dabei lernen, ist mir so egal wie das Zahnschema des Eichhörnchens.
Warnhinweis: Es gibt tolle Lehrer, ich kenne manche. Die anderen aber auch.
Sehr geehrter Herr Augustin,
wie so oft im Leben gibt es Dinge, die einen beglücken und andere, die einen aufregen. Ihr Artikel „Riesenwitz: Die digitale Schule“ gehört zu Letzterem.
Ich kann Ihre Ansicht beim besten Willen nicht teilen und sehe vielmehr einen enormen Vorteil darin, dass Kindern in der Schule die Grundbegriffe des Programmierens beigebracht werden. Und wenn ihnen die Sache Spaß macht, bieten sich ganz sicher eine Menge Zukunftsperspektiven. Warum Sie die Möglichkeiten als Witz bezeichnen, erschließt sich mir leider nicht. Bezeichnen Sie dann Werkkunde auch als Witz, nur weil Sie keinen Sinn darin sehen, dass die Erlernung von Fähigkeiten bei der Bearbeitung von Holz im späteren Leben eines Piloten kaum mehr eine Rolle spielen wird?
Auch Ihre überspitze Argumentation „Als würden wir unseren Kleinsten beibringen, wie man eine Magensonde legt, Mondholz artgerecht verarbeitet und den Sandwichboden eines Wohnwagens repariert. Dafür gibt es Spezialisten, auch unter Ärzten, Tischlern und Kfz-Mechanikern“ hinkt ganz gewaltig. Jeder weiß, dass Lehrer ihren Schhülern allenfalls Grundzüge zu handwerklichen Fertigkeiten beibringen können. Mehr ist auch gar nicht gewollt. Aber ist es nicht von Vorteil, wenn Schüler Grundkenntnisse über handwerkliche, wissenschaftliche und digitale Dinge erlangen? Wer in der Schule lernt, wozu eine Magensonde eingesetzt wird, wie Mondholz verarbeitet werden kann und wie man Reparaturarbeiten angehen sollte, wird ganz sicher nicht zu einer Fachkraft oder einem Spezialisten, aber das Wissen alleine reicht doch schon, um fürs spätere Leben berufliche Ziele und Neigungen auszuloten.
Vielleicht sollten Sie mal den Artikel über Estland lesen (https://t3n.de/magazin/besuch-europas-digital-vorreiter-estland-lernen-243851/). Besonders der letzte Abschnitt beweist doch, dass bereits digitale Kenntnisse von Schülern für das Allgemeinwohl eine Bereicherung sein können. Und meines Wissens hat auch Bill Gates in der 8.Klasse mit dem Programmieren angefangen.
Wenn Programmieren für Schüler ein Witz ist, dann sind es mach andere Sachen die man in der Schule lernt ebenfalls. Ich habe leider keine Kinder im schulfähigen Alter mehr, aber meinen Enkeln wünsche ich eine schulische Ausbildung, in der man neben den Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches und zufriedenstellendes Leben auch handwerkliche und digitale Fähigkeiten erlernt. Und auch wenn in Zukunft viele Arbeiten von Maschinen übernommen werden, wird immer noch der Mensch es sein, der die Maschinen entwickelt und vorprogrammiert. Ob die künstliche Intelligenz sich dabei so entwickelt, wie wir uns das heute vorstellen, sei einmal dahingestellt.
In diesem Sinne
mit freundlichen Grüßen
Gerold Malss
Lieber Herr Malss,
wenn Sie offenen Auges noch einmal lesen, was ichgeschrieben habe, werden Sie feststellen, dass wir gar nicht weit auseinanderliegen – wenn überhaupt. Meine Kernthese lautet ja, dass unsere Schulen erstmal ihre Hausaufgaben machen, also ganz ganz viele Basics sicherstellen (nachholen?) müssen, ehe sie mit so zeitgeistigen Angeboten wie „programmieren“ ums Eck kommen. Denn sonst ist das ein Feigenblatt ohne schützende Wirkung.
Sehr geehrter Herr Augustin,
ich bin Diplommathematiker und Informatiker der ersten Stunde, später Lehrer und Schulleiter, habe im kommunalen Bereich die IT an Schulen aufgebaut und 38 Jahre Lehrerfahrung, 30 in Informatik. Ich habe im Laufe der Jahre fünf Programmiersprachen gelernt…
und möchte Ihnen zu Ihrem wunderbaren Artikel gratulieren.
Programmiersprachen brauchen die Schülerinnen und Schüler, die sich dafür interessieren – und sonst keiner.
Das heißt nicht, dass eine Digitalisierung von Schulen keinen Sinn macht. Wenn sie die Lehrkräfte unterstützt, Unterricht interessanter zu machen, wenn die Kommunikation verbessert und die Verwaltungsabläufe effizienter gemacht werden, kann das viel kreative Kräfte freisetzen.
Zentrum bleibt aber die Lehrkräfte, die unsere Kinder immer wieder anleiten und ermutigen. Programmiertes Lernen ist Unsinn.
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