Digitalisierung bedeutet auch Zerstörung von Gewohntem. Doch wir Menschen tun uns schwer mit Veränderungen, vor allem mit großen. Je stärker die Veränderung, die uns zugemutet wird, desto stärker der Drang, in den gewohnten Ausgangszustand zurück zu schwingen.
Eine Freundin unserer Familie pflegte am Sonntagsbraten rechts und links ein Stück abzuschneiden, bevor sie das Fleisch in den Bräter legte. Ihre Enkelin fragte sie eines Tages, warum sie das denn mache. Sie wusste es nicht; wusste nur, dass auch ihre Mutter das immer gemacht und sie das eben übernommen habe. Gottseidank lebte diese noch, so dass sie der Sache auf den Grund gehen konnte. Antwort der Mutter: „Weil der Braten sonst nie in den Topf gepasst hat!“
Schreckgespenst Digitalisierung?
Wie oft machen wir etwas, weil wir es immer schon so gemacht haben, weil es sich mutmaßlich so gehört oder erwartet wird. Wir tun dies, ohne uns zu hinterfragen, ob es denn noch richtig, angemessen und die beste Lösung sei. Gleichzeitig erleben wir unserer Tage stärker denn je, dass die Veränderungsgeschwindigkeit unaufhörlich ansteigt, Digitalisierung steht als Fortschrittsfanal und Schreckgespenst zugleich – das macht uns Angst, verunsichert uns und fordert viel Kraft.
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Was ist denn nun richtig? Sollte unsere Anerkennung jenen gehören, die am Bestand festhalten wollen, sich an alte Zöpfe krallen und nicht willens und in der Lage sind, sich zu verändern? Oder eher jenen, die alles permanent hinterfragen, zerstören, neu erfinden – um den Preis, nie anzukommen und innehalten zu können?
Die Romanfigur James Taggart, Boss einer Eisenbahngesellschaft, sagt in dem fulminanten, epochalen und zeitlos brillanten Werk „Atlas Shrugged“ von Ayn Rand, voller Verzweiflung: „How can i plan anything is everything changes all the time!“ Das Buch ist von 1957, James ein heimtückischer Angstbeißer – und doch kann er einem leid tun, denn er bringt die Überforderung mit dem Wandel auf den Punkt.
Es gibt kein Update für Hirn und Seele
Dass unser Leben ursächlich von Veränderungen geprägt wird, müssen wir hier nicht diskutieren. Doch die Herangehensweise und das erträgliche Maß, das sind spannende Themen, seit es Menschen gibt – und heut zu Tage aktueller denn je, wächst Wandel doch exponentiell. Nur dumm, dass es keine Upgrade für unser Hirn und unsere Seele gibt – die Spannung steigt also unausweichlich. Menschen, Gruppen, ganze Nationen fühlen sich abgehängt, verlieren ihre Gesundheit.
Ich habe immer behauptet, nur große Veränderungen zu können: Ich bin lange jeden Tag Rennrad gefahren. Ich habe mit einem Schlag das Rauchen aufgehört. Ich kann 14 Tage heilfasten. Ich wurde vom Vielfleischfresser zum Veganer (verkündet am 1. April, was die Sache nicht glaubwürdiger machte). Ich habe nicht langsam mein Sportpensum erhöht, weniger Zigaretten geraucht, Diätpläne eingehalten. Die Radikalität der Veränderung als Prinzip – das schien zu funktionieren.
Ich fürchte, das war falsch.
Der Mensch, ein homöostatisches Meisterwerk
Schauen wir uns einmal an, wie das System Mensch funktioniert: In praktisch allen Prozessen geht es um Ausgleich, Stabilität und Kontinuität. Homöostase ist der wissenschaftliche Begriff dafür, ein Beispiel die Regulierung des Blutzuckerspiegels, bei dem der Körper mit den Zutaten Insulin und Glucagon versucht, äußere Einflüsse zu balancieren. Auch Atmung ist ein homöostatisches System, die Blut-Hirn-Schranke im Hirn, die Temperaturregelung und selbst der Schlaf.
Weil es so naheliegend ist, leben wir so, wie unser Körper funktioniert: Wir versuchen, bei Veränderungen den Ausgangszustand stabil zu halten. Mit anderen Worten: Veränderungen bringen uns aus dem Gleichgewicht und das mögen wir nicht. Große Veränderungen werfen uns aus der Bahn und das ertragen wir nicht. Ich rede von Gewohnheiten. Der alte Trick, die Hände wie zum Gebet zu falten und dann die Lage der Finger zu verändern, so dass der andere Daumen oben liegt, zeigt es deutlich.
In seinem Buch „Mastery“ analysiert George Leonard dieses Phänomen messerscharf. Er beschreibt Entwicklungen als moderate Bewegungen nach oben, denen ein Plateau folgt, auf dem es nicht besser wird, aber die Veränderung verstetigt wird. Das ist die Phase, in der viele die Geduld verlieren, weil es ihnen nicht mehr schnell genug geht. Sie brechen ab. Wenn ich Tennis lernen will, geht das. Wenn meine Lebenswelt sich umstülpt, geht das nicht.
Glück im 30-Minuten-Takt
Soweit das Prinzip der Entwicklungsschritte mit stabilisierenden Phasen (Plateaus). Doch dem gegenüber steht eine gesellschaftliche Tendenz, permanent große Sprünge zu fordern, in 30-Minuten-Serien-Happen entwickelt sich das TV-Leben der anderen vor unseren Augen, göttliche Fügung, Waffengewalt und unglaubliches Glück lassen die Helden von einem Niveau aufs nächste springen. Die Werbung suggeriert Ähnliches. Einmal rauchen, trinken, essen, cremen oder anschalten und schon fliegt dir das Glück zu.
Das Problem: Es gibt in dieser Darstellung keine Plateaus. Willst du viel erreichen, heißt es, musst du dir große Ziele setzen. Doch wer sich große Ziele setzt, setzt große Widerstandskräfte frei, die versuchen, den Ursprungszustand wieder herzustellen.
Und wie aus heiterem Himmel erleben wir, dass von außen an uns gezerrt wird. Wenn ich jeden Abend schwimmen gehen will, legt die Deutsche Fußball-Liga die Heimspiele auf den Abend. Wenn ich keinen Industriezucker mehr essen will, backen die Kollegen extrafleißig übermenschlich leckere Torten. Wenn ich unseren Vorgarten ordentlicher halten will, fegen Sandstürme über uns hinweg.
Es geht auch radikaler: Wer zu viel trainiert, verletzt sich. Wer zu radikal führt, riskiert den Aufstand. Menschen mögen keine Veränderungen. Wir sind homöostatische Meisterwerke.
Wir können Wandel – halt langsam
Wieso leben wir dann nicht mehr in Höhlen, fürchten Bären und die Mondfinsternis? Weil wir Wandel und Wachstum können – aber eben in kleinen Häppchen, die verdaulich sind.
Dabei hat jedes System seine eigene optimale Wachstumsgeschwindigkeit, meist deutlich langsamer als die maximale Wachstumsgeschwindigkeit. Diese gilt es zu treffen, um überhaupt eine Änderung zu bewirken, dabei die Widerstandskräfte überwindbar zu halten und die Veränderungen zu verstetigen. Wenn ich einen Muskel zu wenig trainiere, wächst er nicht. Trainiere ich ihn zu hart, reißt er.
Ich glaube, eine der größten Herausforderungen der Digitalisierung für die Menschheit ist, trotz der atemberaubenden äußeren Geschwindigkeit die innere Geschwindigkeit zu balancieren, um nicht daran zu zerbrechen. Muster zu erkennen, Details auszulassen, nein zu sagen. Kleine Schritte zu wagen.
Ich glaube nicht, dass dies eine Frage des Alters ist. Wenn Menschen bis ins hohe Alter eine neue Sprache oder ein neues Instrument lernen können, kann das nicht sein.
Wir müssen Wege finden, die Geschwindigkeit trotz allen revolutionären Eifers so zu kontrollieren, dass es eine Evolution bleibt. Sonst drohen wir in den Ausgangszustand zurück zu schnellen – oder zu brechen.