Sonia Jaeger, Online-Psychologin und digitale Nomadin, schreibt auf Mobility Mag regelmäßig über die großen und kleinen Phänomene unserer mobilen Gesellschaft. Dieses Mal fragt sie sich als Deutsch-Französin, warum Mehrsprachigkeit von vielen eigentlich als negativ empfunden wird.
Vor ein paar Monaten lernte ich ein älteres Ehepaar kennen, das vor über 30 Jahren aus seinem Heimatland Rumänien nach Australien ausgewandert ist. Zwei wunderbar herzliche und freundliche Menschen mit Migrationshintergrund, wie man sie in Australien häufig trifft. Ganz stolz präsentierten sie mir ein altes Teeservice, eine der wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer Reise ans andere der Welt mitgenommen hatten. Was mich dann im weiteren Gespräch allerdings überraschte, war die Tatsache, dass trotz dieser Heimatverbundenheit ihre in Australien geborenen Kinder kaum Rumänisch sprechen.
Macht Mehrsprachigkeit zum Außenseiter?
Sie hätten mit den Kindern zu Hause bewusst nur Englisch gesprochen, damit sich die Kinder im neuen Land möglichst gut integrieren. Diese und ähnliche Aussagen habe ich seitdem immer wieder gehört hier in Australien. Der Wunsch nach Integration, dem Dazugehören, ist wohl so stark, dass die Ursprungssprache und die Kultur der alten Heimat oft weitgehend aufgegeben werden. Nun kann ich aus psychologischer Perspektive diesen Gedanken und Wunsch durchaus nachvollziehen.
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Das Neuanfangen an einem völlig anderen Ort, in einer neuen Welt, und damit auch die Abkehr von der alten. Auch die Idee, dass es für die Kinder leichter sei, wenn sie nur eine Sprache kennen, ist durchaus verbreitet. Trotzdem überrascht es mich immer wieder. Sowohl aus persönlicher Perspektive als auch in Anbetracht der Tatsache, dass inzwischen immer mehr Familien ohne Migrationshintergrund den Wunsch haben, ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen zu sehen – der Markt für Chinesischunterricht im Kindergarten boomt.
Warum das Thema mich persönlich so anspricht? Ich bin selber zweisprachig (Deutsch-Französisch) aufgewachsen und besitze auch die doppelte Staatsbürgerschaft. Für mich und mein Umfeld war Zweisprachigkeit etwas ganz Natürliches. Auf der französischen Schule in München gab es zahlreiche zweisprachige Kinder wie mich sowie eine ganze Reihe von Franzosen, die sich vorübergehend in München aufhielten. Dazu kamen noch einige deutsche Kinder, deren Familien einen starken Bezug zu Frankreich hatten. Auch wenn die Mehrsprachigkeit für mich also schon immer natürlich war, so scheint sie doch für viele Menschen ein nach wie vor ein kontroverses Thema zu sein.
Die Hälfte der Weltbevölkerung spricht zwei Sprachen
Beim Reisen, insbesondere in Südostasien, ist mir immer wieder aufgefallen, wie viele Menschen eigentlich mehrsprachig aufwachsen. Es gibt Schätzungen dazu, dass etwa die Hälfte der Weltbevölkerung mindestens zwei Sprachen (oder Dialekte) im Alltag aktiv verwendet. Das mag zwar zunächst überraschen, aber wenn man sich vor Augen führt, dass es z.B. in Indonesien mehr als 700 verschiedene Sprachen gibt und in Indien deutlich über 400, dann verwundert es schon etwas weniger. Auch in Europa, z.B. in der Schweiz und Luxemburg, ist Mehrsprachigkeit für viele Menschen Alltag.
Ich selber habe meine Mehrsprachigkeit nie als Problem empfunden, in der Regel werde ich auch eher dafür beneidet, gerade von denen, die sich eine zweite Sprache mühsam später angeeignet haben. Und dass ich Englisch mit einem deutschen Akzent spreche, während mein Spanisch eher wie das einer Französin klingt, führt in der Regel auch zu unterhaltsamen Gesprächen.
Es liegt mir auf der Zunge …
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging man noch davon aus, dass das Aufwachsen mit mehreren Sprachen für die Entwicklung des Kindes schädlich sei. Es sollte zu einem niedrigeren IQ und schlechteren verbalen Fähigkeiten führen. Inzwischen wurden diverse Studien zu dem Thema durchgeführt, die in der Tat auf verbale Schwierigkeiten von mehrsprachigen Menschen hinweisen.
So scheinen diese zum Teil schwächere verbale Fähigkeiten zu haben sowie weniger Wörter einzelner semantischer Kategorien zu kennen. Ein Phänomen, das ich auch persönlich kenne, ist dieser „Es-liegt-mir-auf-der-Zunge-Moment“, den mehrsprachige Menschen wohl etwas häufiger erleben als Monolinguale.
Viel mehr als diese möglichen Nachteile wurden in den letzten Jahrzehnten aber vor allem Vorteile der Mehrsprachigkeit wissenschaftlich hervorgehoben. Insbesondere wurde ein kognitiver Vorteil von Mehrsprachigen festgestellt, der sich nicht nur auf den Sprachgebrauch selbst, sondern auch auf andere kognitive Funktionen auswirkt. So gibt es Hinweise auf bessere kognitive exekutive Kontrolle bei der Ausführung bestimmter Aufgaben sowie auf geringere kognitiven Abbau im Alter bis hin zu einem späteren Beginn von Demenzen.
Auch wenn diese Vorteile inzwischen in der Forschungslandschaft immer wieder kontrovers diskutiert werden, so scheint sich aktuell doch die Meinung zu halten, dass Mehrsprachigkeit grundsätzlich hilfreich und vorteilhaft ist.
Mehrere Sprachen, mehrere Persönlichkeiten
Für mich persönlich und alle Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, gibt es aber viel wichtigere Vorteile der Mehrsprachigkeit, die sich oft ganz konkret im Alltag zeigen. Und diese Vorteile haben nicht nur Menschen, die von klein auf mehrsprachig aufgewachsen sind, sondern auch all jene, die sich später eine oder mehrere Sprachen angeeignet haben. Auch wenn die später erlernte Sprache doch nie ganz so selbstverständlich wird wie die von Anfang an gesprochene.
Not lost in translation
Allein die Fähigkeit, Filme, Bücher oder Musik in der Originalsprache zu genießen, ermöglicht zum Beispiel einen viel direkteren Zugang zu kulturellen und sprachlichen Feinheiten, die durch Übersetzung und Synchronisierung häufig verloren gehen.
Vorteile bei der Jobsuche
In einer immer mobileren Welt erleichtert die Mehrsprachigkeit auch bei Weitem nicht nur das Reisen, sondern auch die Jobsuche, egal ob national oder international. Schließlich ermöglicht das fließende Sprechen einer anderen Sprache natürlich auch die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen. Denn plötzlich kann man mit Einheimischen oder Monolingualen über so viel mehr als nur über das Wetter sprechen.
Hallo, vielschichtige Persönlichkeit!
Und schließlich ermöglicht das Sprechen mehrerer Sprachen und Eintauchen in verschiedene Kulturen auch die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit. Dazu gehört auch das Entdecken von ganz neuen Aspekten an uns selbst. Nicht wenige Mehrsprachige kennen dies: Während man in der einen Sprache eher sachlich und rational denkt, wirkt man in der andere deutlich emotionaler und verletzlicher. Egal ob wir träumen, denken oder mit anderen sprechen, unser Wesen wird ganz entscheidend davon geprägt, in welcher Sprache wir dies tun.
Auch wenn wir also manchmal etwas zerrissen sind zwischen Kulturen und Sprachen, oder auch Schwierigkeiten haben ein Wort zu übersetzen, weil es einfach kein genaues Äquivalent gibt: Die Vorteile der Mehrsprachigkeit überwiegen für mich eindeutig.
Selbst wenn ich inzwischen einen Großteil meines Alltags auf Englisch verbringe, so wird diese Sprache dennoch nie denselben Stellenwert einnehmen wie die Sprachen, mit denen ich aufgewachsen bin.
Und wenn ich das nächste Mal gefragt werde, ob ich mich eher als Französin oder Deutsche empfinde, dann antworte ich gerne, dass ich mich als Europäerin fühle. Als gut organisierte, Wein trinkende Weltbürgerin.
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