„Es reicht“, rief die übernächste US-Präsidentin Michelle Obama (“enough is enough!“) und sezierte in einer beachtlichen Rede den unerträglichen Sexismus eines Donald Trump. Erstaunlich nur, dass erst die gefühlt 423. Unerträglichkeit dieses lächerlichsten aller Überkämmer ihn wohl endgültig ins Abseits schießt – aber darum geht es hier nicht. Hier geht es darum, dass unser Hirn seit über 100.000 Jahren unverändert geblieben ist, wohingegen wir immer mehr Eindrücke digital hinein schaufeln. Das kann nicht gut gehen.
Es reicht, Wahlkampf, Erdogan, Sachsen, Putin, Assad & Co.
Es reicht, mag ich dem ganzen US-Wahlkampf zurufen, weil es höchste Zeit ist, die Demokratie zu retten. Es reicht, Erdogan, weil sonst die Türkei im Mittelalter aufwacht und nach zwei Touristen-freien Jahren pleite ist. Es reicht, Putin und Assad, weil jedes tote Kind das Warten auf Frieden um eine ganze Generation verlängert. Es reicht, Sachsen, welche Schande für dieses schöne Land – wer hätte ahnen können, dass sich ein Selbstmordattentäter töten möchte? Es reicht, SPD und Grüne, wollt ihr euch endlich um die wahren Aufgaben kümmern, anstatt bis zur eigenen Unkenntlichkeit zu blockieren, zu skandieren, von Skandälchen zu Skandälchen zu taktieren, um euch dann verzweifelt über Politikverdrossenheit zu mokieren? Es reicht, es reicht, es reicht.
Ich mag all das nicht mehr sehen, lesen hören. Und womöglich kann ich das auch gar nicht mehr. Tatsächlch ist die Hardware unseres Gehirns seit Ewigkeiten unverändert, ein Update ist nicht in Sicht. Das Moore’sche Gesetz, wonach sich die Rechenleistung von IT-Systemen alle ein bis zwei Jahre verdoppelt, gilt für Menschen nicht. Wir können allenfalls die Software anpassen, also Kurse wie den Productivity Booster von Ivan Blatter buchen (immer eine gute Idee!), unsere Hirnwellen mit entsprechenden Klängen optimieren und uns ein Netzwerk an Therapeuten, Coachen, Beratern knüpfen. Doch all das lindert allenfalls die Symptome. Die Hardware bleibt unverändert und damit streng limitiert.
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Die Ursache dieses unbändigen „Es reicht“-Gefühls, dem Michelle Obama nun ihre Stimme gegeben hat, liegt in der Überforderung, die wir uns durch ungebremsten Konsum von Medien, Netzwerken und Nachrichten antun. Über immergrüne Kanäle schwappen rund um die Uhr Bilder in unser Blickfeld, Krieg, Verderben, Flucht, Mord, Totschlag, Menschenfeindlichkeit allenthalben. Das kann nicht gut sein – und langfristig nicht gut gehen.
Aber wolltest Du nicht die Welt retten?
„Moment mal“, ruft da der frisch duftend erschienene Lenor-Guido neben mir, „du willst die Augen verschließen vor dem Elend der Welt? Du Egoist, du musst doch helfen, willst du denn nicht die Welt jeden Tag ein klein wenig besser machen?“ Ja, liebes Alter-Ego, das will ich. Doch ich fühle mich zu klein, alle Not der Welt zu (er)tragen und zu lindern. Ich tue ja Gutes, wo ich kann – doch dieses „wo“ sehe ich in meiner direkten Umgebung. Und wie weit geht die?
„Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst“, heißt es in der Bibel – doch wer ist dieser „Nächste“ und wo wohnt er? In einer globalisierten Welt hat sich die Bedeutung des „Nächsten“ gegenüber dem Mittelalter oder der Steinzeit gewandelt und so überprüfe ein jeder an sich selbst, wie weit seine gefühlte Nähe zu Mitbewohnern dieser Welt reicht – und wo die Grenze erreicht ist. Diese Grenze rate ich mutig zu verteidigen, denn da kommt die Vorbedingung der Bibelstelle zum Tragen: „wie Dich selbst“. Wenn ich mich selbst nicht liebe, nicht auf mich aufpasse, wie kann ich da andere lieben? Wenn ich mich selbst permanent überfordere, wie kann ich für ein syrisches Kind da sein?
Wer beißt schon gerne in einen faulen Apfel
Der wunderbare The Scary Guy (CNN Porträt), einst für den Friedensnobelpreis nominiert und auf dem besten Weg, ein Freund der Familie zu werden, hat ein schönes Bild dafür: Wenn vor uns zwei Äpfel liegen, einer knackig frisch, der andere dagegen angefault und übel riechend, in welchen würden wir wohl beißen? Bei Nahrungsmitteln funktioniert unser Instinkt (wenn nicht industriell gefoppt) also noch, doch bei Menschen, oder in meinem Anwendungsfall bei Informationsströmen, fuktioniert er nicht.
Und so bin ich mir sicher, dass wir uns schaden, wenn wir uns überfordern und nicht schützen, wenn wir nicht aufhören, faule Äpfel zu essen. Highspeed-Medien und unsere digitalen Netzwerke machen uns alle zu Autisten, wir können, weil unser Gehirn eben nicht mitwächst, nicht 1.000 Mal mehr Informationen verarbeiten. Wir sind überfordert, können all diese Eindrücke nicht verarbeiten, nicht priorisieren, nicht ertragen. Dabei ist diese Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns nicht angeboren wie bei geborenen Autisten, die an den Sinnesreizen ihrer Umwelt verzweifeln, sondern aus freien Stücken angeschaltet.
Wir können unseren Autismus abschalten
Die gute Nachricht: Wir können unseren Autismus abschalten. Deswegen sortiere ich immer wieder meine Facebook-Freunde und trenne mich leichtfüßig von Menschen, die gesellschaftsfähig rassistisch auffallen, kündige Abos, schaue bewusst weg. Wer sich auf die Deutschen Wirtschafts-Nachrichten beruft oder von der BRD GmbH faselt, steht direkt auf der Unfriend-Planke. Zitat aus „Gute Freunde kann niemand trennen“, Beitrag aus Guidos Wochenpost vom Januar 2016: „Wenn mir jemand entgegenkommt, der mir unheimlich ist, dessen Hund mir Angst macht oder mit dem ich aus sonstwelchen Gründen nicht den Bürgersteig teilen möchte, wechsle ich die Straßenseite. Ganz einfach. Noch nie musste ich mich dafür rechtfertigen. Und so ist es bei Facebook auch.“
Ich pflege meine Filter-Blase also ganz bewusst, denn ich will mein kleines altes Gehirn nicht permanent überfordern. Ich schaffe mir eine blickdichte Filter-Blase (wieviel DEN das wohl sind?), will nur noch lesen, was mir gefällt, womit ich mich auskenne und vor allem: was mir gut tut. Wie herrlich war das dieser Tage, im Newsfeed nicht mehr permanent Trump brüllen zu sehen, sondern Michelle Obama, der es (bei gleichem Thema) gelang, den Antichristen zu überstrahlen. Wie gerne lese ich spannende Beiträge über Digitalisierung, Mediennutzung und Business Modelle, debattiere ich mit meinen Freunden über Fußball, Elektromobilität und unser Fan-Prinzip, streite und bestreite ich auf Augenhöhe. Doch die Trumps, Petrys, Erdogans, Assads und Putins dieser Welt mögen sich hinter meinem Mond versammeln und dort in den Höhlen vor dem Feuer tanzen, dass ich sie gleich nicht sehen muss.
Ich kann nicht Diktatoren stürzen
Ich möchte mich nicht mehr zum Mündel einer überbordenden Wahrnehmungs- und Entrüstungsökonomie machen, weil ich glaube, dass der daraus resultierende Aktionismus nichts bewirkt außer Staub aufzuwirbeln. Ich kann tragische Weltereignisse nicht ungeschehen machen, nicht Diktatoren stürzen und nicht Frieden in Kriegsgebiete tragen. Ich kann keine Drogenabhängigen kurieren, keine Trauernden in Katastrophengebieten trösten und Faschos argumentativ erreichen. Aber ich kann etwas anderes tun, denn tatsächlich ist mein Motto, die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen zu wollen.
Ich kann in meiner Blase wirken. Die Elemente von „Think globally. act locally“ stellen gar keinen Widerspruch dar. Ich bin fest überzeugt: Wer lokal handelt (aka hilft), verändert die Welt. Das fängt ganz klein vor der eigenen Haustür an und breitet sich systematisch und unaufhaltsam aus. Ich kann als Nachbar, der Typ vor dir in der Kassenschlange, Arbeitgeber, Familienvater und Netzwerker eine enorme Wirkung entfalten, die über Gonsenheim, Mainz, Rheinland-Pfalz, Deutschland, Europa und den ganzen Rest hinaus geht. Der Schmetterlings-Effekt wird es richten!
tl;dr: Wenn wir alle eine blickdichte Filter-Blase hätten, die Welt wäre ein bessere.
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