Stell dir vor, es ist Terrorismus – und keiner schaut hin. Terrorismus, wie wir ihn in Europa gerade erleben, braucht die öffentliche Aufmerksamkeit und die Multiplikation der Angst durch klassische und soziale Medien. Das klappt schrecklich gut, die Strategen des Terrors machen uns zu willfährigen Terrorhelfern.
Terrorismus ist eine Kommunikationsstrategie. Die Attentäter von Brüssel, Paris und Istanbul zielen nicht auf Brücken, Kraftwerke und militärische Anlagen. Sie attackieren nicht Staatsanwälte, Politiker, Manager, wie zu Zeiten von RAF, ETA und IRA. Sie töten wahllos Menschen im Café, beim Konzert, vor dem Abflug in den Urlaub. Und sie haben nur ein Ziel: Angst machen.
Jeder Mitleids-Post macht uns zum Helfer des Terrors.
Das funktioniert zunehmend leichter, denn kein Anschlag, von dem es nicht Videos aus Überwachungskameras oder Smartphones gibt, dazu unzählige Fotos und Augenzeugenberichte in unterschiedlichen Formaten. Wir teilen millionenfach Informationen, Nicht-Informationen und Falsch-Informationen, tauschen Kondolenznoten aus und debattieren erhitzt über Ursachen, Auswirkungen und Maßnahmen der Grausamkeiten. So entsteht der schmerzhafte und beklemmende Eindruck, Terror nehme zu und rücke immer näher an uns heran. Bittere Wahrheit: Jeder Mitleids-Post macht uns zum Helfer des Terrors.
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Exkurs: Ist ein bisschen wie mit der AfD. Wenn jeder, der etwas gegen die Neofaschisten vorzubringen hat, deren Beiträge kritisch teilt, verschafft er ihnen (entgegen der guten Absicht) Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Gerade dieser Tage quillt meine Timeline nur so über vor Frauke Petry. Zerpflückt im Interview hier, kritisch porträtiert da, frisch getrennt dort. Ich finde es unerträglich, wie unreflektiert meine Sozialzeitgenossen dieser überaus geschickten Demagogin Bühnen bieten.
In den 70ern und 80ern war mehr Terror
Das Geschäft mit der Terror-Angst floriert. Nervosität steigt spürbar, Misstrauen gegenüber den Garanten staatlicher Ordnung wächst. Emotionen dominieren die Wahrnehmung, die Debatte und Lösungsansätze. Das hilft den Opfern und ihren Angehörigen nicht, sondern spielt den Mörderbanden in die Hände. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung hat der Terror in Europa in den vergangenen Jahren keineswegs zugenommen. Seit 2001, als das World Trade Center zu Staub zerfiel, gab es in Westeuropa insgesamt knapp über 600 Terror-Tote. Zum Vergleich: In den 70er- und 80er- gab es pro Dekade mehrere Tausend Opfer zu beklagen, in den 90er- und 2000er-Jahren schon deutlich weniger. Die Schweizer von watson.ch haben das hier gut zusammen gestellt.
Tote aufzurechnen ist zynisch, weil der Blick auf die Schicksale verstellt wird und jeder Tod durch Terror sinnlos bleibt. Die Botschaft darf nicht lauten, dass alles nicht so schlimm sei, dennoch: Pro Jahr nehmen sich in Deutschland mehr Männer zwischen 45 und 50 das Leben, im Straßenverkehr sterben in Deutschland jedes Jahr rund 5 Mal mehr Menschen als in 15 Jahren des Terrors in Europa.
Die allerwenigsten von uns betreffen die Anschläge persönlich. Ja, es könnte jedem von uns passieren, der zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen wäre. Aber das gilt genauso für Verkehrsunfälle, herabstürzende Dachziegel und Blitzeinschläge.
Zivilisation nach innen verteidigen
Zurück zur Kommunikation: Ohne einen Generalboykott aller Informationsquellen ist es nicht mehr möglich, sich einem solchen Ereignis und den unvermeidlichen Post-Wellen zu entziehen.
Der Würzburger (Vor-)Denker Patrick Breitenbach hat dies getan, zumindest hat er es auf Facebook angekündigt – und schließt mit einem bemerkenswerten Fazit: „Ich setze meine Energie ein, mein Leben in einer freien und offenen Gesellschaft möglichst fortzuführen und meinen Kindern und mein persönliches Umfeld das notwendige Rüstzeug und die notwendige Bildung zu ermöglichen, auch weiterhin ein Teil der offenen Gesellschaft sein zu wollen, die immer wieder durch solche schreckliche Taten herausgefordert wird. Ich versuche (!) also so zu leben, wie es der Terror im Grunde genommen verhindern will.“
Meine Rede. Es macht keinen Sinn, unsere Gesellschaft, unsere Zivilisation, unsere Demokratie nach außen waffenstarrend zu verteidigen, weil jede Bombe gleich dem Kampf gegen die Hydra neue Terroristen gebärt, weil jede Verschärfung der Sicherheitspolitik mehr Menschen radikalisiert. Wir müssen uns nicht nach außen verteidigen, sondern nach innen.
Es geht um unseren Mantel
Ich habe darüber schon nach den Attacken von Paris geschrieben („Imagine“ hier nachlesen) und bleibe auch heute dabei: Jeder Einzelne kann etwas tun. Wenn ich im Straßenverkehr wen einscheren lasse, komme ich trotzdem ans Ziel. Wenn ich auf Unbekannte zugehe wie ein neugieriges Kind, kann ich mein Leben und deren Leben bereichern. Wenn ich eine ältere Dame auf einen Kaffee einlade, werde ich reicher – an ihrer Geschichte. Es ist Haltung, die uns stärkt – und es spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen, diese Haltung aus der Privatsphäre heraus auf alle Bereiche auszudehnen.
Es genügt nicht, jährlich an St. Martin zu debattieren, wie der Umzug heißt. Es geht um unseren Mantel.