Digitaler Nomade werden – und dafür alles aufgeben, was man sich aufgebaut hat? Genau das hat Sonia Jaeger getan. Sie hat ihr etabliertes Leben komplett hinter sich gelassen, um als digitale Nomadin zu leben und zu arbeiten. Sonia Jaeger hatte eigentlich alles, was man sich vom Leben wünschen kann: Die Diplompsychologin hatte 2014 gerade ihre Promotion eingereicht und nach einigen Jahren Berufserfahrung war der nächste logische Schritt, sich eine eigene Praxis aufzubauen. Ein fester Job, ein sicheres Einkommen, eine vorgezeichnete Laufbahn. Das war zumindest der Plan – und dann kam alles anders.
Ein monotoner Job für die nächsten Jahrzehnte? Nein danke!
Wie kommt eine sehr gut ausgebildete Psychologin dazu, alles aufzugeben und zur digitalen Nomadin zu werden? So genau weiß sie das selbst nicht, aber es gab auch schon in ihrem Berufsleben immer wieder Momente, in denen sie an dieser vorgegebenen Lebensplanung zweifelte. Jaeger ist unter anderem Spezialistin für Stress und Burnout. Sie erinnert sich zum Beispiel noch gut daran, wie sie damals selbst ausgebrannt in der Praxis in Erfurt saß und ihren Patienten predigte, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. „Ich war die erste, die meinen eigenen Rat nicht befolgte“, lacht Jaeger. Deshalb beschloss sie, sich nach dem Einreichen ihrer Doktorarbeit erstmal eine 10-monatige Auszeit zu gönnen: Sie ging auf Reisen. Je länger sie unterwegs war, umso beengender kam ihr die Idee vor, sich bereits so früh auf ein gesamtes Leben festzulegen: „Eine Praxis für Psychotherapie hätte bedeutet, dass ich dann die nächsten 10 Jahre an einen Ort gebunden bin und es wäre schwierig gewesen, mehr als drei Wochen am Stück Urlaub zu machen.“
Das war Sonia Jaeger zu wenig als Aussicht für den Rest ihres Lebens. So kam ihr der Gedanke, dass sich ihr Berufsleben mit ihrer Reiselust doch kombinieren lassen könnte. Während sie sich auf Reisen mit vielen anderen austauschte, wurde ihr klar, dass viele bereits genau das taten. Arbeiten und Reisen schienen sich nicht gegenseitig auszuschließen. So dünkte es Sonia Jaeger, dass es auch für sie die Möglichkeit geben könnte zur digitalen Nomadin zu werden: „Das erste Mal kam der Gedanke bei mir auf, als ich auf meinen Reisen eine Spanierin kennen lernte, die mir erzählte, dass sie weiterhin mit ihrer Psychologin daheim über Skype in Kontakt war.“ Ab diesem Moment war Sonia Jaeger klar, dass auch sie ihren Beruf über’s Internet ausüben könnte. Sie begann sich zu informieren und meldete sich schließlich auf verschiedenen Webseiten an, die Psychologen online vermitteln. Seit 2015 ist sie selbständig und arbeitet als digitale Nomadin. Mittlerweile hat sie sich ihre eigene Webseite aufgebaut, auf der Kunden ihre Skype-Beratung auf deutsch und französisch anfordern können.
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Vom Brunout-Patienten bis zum Nägelkauer
Dr. Sonia Jaeger bietet online nicht nur Hilfe zu Themen wie Stress oder Burnout, sondern auch zu Erziehungs- und Beziehungsproblemen an. Ihr neuer Berufstitel ist Beraterin oder Coach, da nach deutschem Gesetz psychologische oder psychotherapeutische Therapie nicht über’s Internet angeboten werden darf. Sonia Jaeger ist dabei aufgefallen, dass sich ihr Kundenstamm mit der Onlineberatung auch verändert hat: „In der Praxis kamen viel mehr Frauen zu mir, jetzt sind es vor allem junge Männer.“ Dahinter vermutet Sonia Jaeger mehrere Gründe: Erstens ist die Hemmschwelle für Männer viel größer als für Frauen zum Psychologen zu gehen. Bei vielen herrscht noch das starke Stigma, dass Mann als Weichling dasteht, wenn er Hilfe sucht. Auch glaubt Jaeger, dass junge Männer grundsätzlich häufiger im Netz unterwegs sind als Frauen und es für sie daher nahe liegt, auch Onlineberatung hier zu suchen.
Die meisten ihrer Klienten kommen zu Sonia Jaeger, weil sie konkrete Probleme angehen wollen. Das können berufliche oder auch private Ziele sein, die sie umsetzen wollen oder auch Alltagshürden, die sie bewältigen möchten. Hin und wieder haben sie aber auch ganz andere Anliegen: „Ich hatte aber zum Beispiel auch schon einen Kunden, der stressbedingt Nägel kaute. Das hatte nicht nur ihn, sondern auch seine Freundin so gestört, dass er dann Onlinehilfe bei mir suchte.“ Die Beratung, die Sonia Jaeger anbietet, ist dementsprechend zielorientiert. Es geht weniger um Traumabewältigung oder Langzeittherapie, sondern um praktische Hilfe. Im Schnitt nimmt eine Kundenberatung fünf bis sechs Sitzungen in Anspruch. Gemeinsam mit ihren Kunden skizziert sie das Grundproblem, dann erarbeiten sie gemeinsam, was der Lösung im Wege steht und entwickeln dann zusammen wirksame Strategien für den Alltag. Kunden können beispielsweise bei ihr auch Anti-Stress-Pakete buchen. „Ich vermute, dass hinter den kurzen Sitzungen auch ein gewisser finanzieller Hintergrund steht,“ sagt Jaeger, „da meine Kunden ja die Sitzungen aus eigener Tasche bezahlen müssen und die Krankenkasse diese Kosten nicht übernimmt, sind natürlich auch sie selber an schnellen Lösungen interessiert.“
Natürlich gibt es dennoch Unterschiede zwischen der persönlichen Beratung in der Praxis und einer Skype-Sitzung: „Über Skype fällt natürlich viel von der Körpersprache weg, es fällt ein Teil des persönlichen Kontaktes weg und ich kann natürlich auch nicht wirklich schwere Fälle annehmen, die tatsächlich eine persönliche Beratung erfordern.“ Doch die Onlineberatung kann auch Vorteile haben. So ist eine Skype-Sitzung viel anonymer als eine psychotherapeutische Beratung. Sie hinterlässt zum Beispiel keine Aktenspur hinterlässt – etwas, das bei der Jobsuche zum Beispiel problematisch werden könnte. Wer nicht möchte, muss noch nicht mal die Videofunktion bei Skype aktivieren, sodass viele Kunden über die Online-Session viel anonymer beraten werden können als in einer Praxis. Selbstverständlich kann man auch einfach jederzeit auflegen und die Sitzung beenden – etwas, das in einer Live-Sitzung fast nie passiert. Das gibt vielen Interessierten mehr Mut, online Hilfe zu suchen.
Ein Strandparadies als Praxis
50 Euro kostet eine Skype-Sitzung mit Sonia Jaeger, das ist deutlich billiger als die Beratung in einer privaten Praxis, da bei der Onlineberatung natürlich auch kaum Kosten entstehen. Ihre Kunden bezahlen sie per Paypal oder Banküberweisung und sie haben grundsätzlich kein Problem damit, dass ihre Beraterin Tausende von Kilometern entfernt von ihnen sitzt. Sonia Jaegers Lebensmittelpunkt ist im Moment auf der Insel Koh Tau in Thailand, ein Ort, der für Tauchen und Yoga bekannt ist und als entspanntes Chillout-Paradies für Aussteiger gilt. Die Onlineberatung funktioniert hier aber überraschend gut. Zwar ist die Internetverbindung auf der Insel nicht besonders stabil, weshalb sie für ihre Sitzungen fast nie das WLAN vor Ort nutzt, sondern lieber das Datenpaket auf ihrem Smartphone. Damit funktionieren zumindest die Sitzungen aber reibungslos. Auch die Zeitverschiebung scheint kein Problem zu sein. So kann Sonia Jaeger neben ihrer Arbeit auch das entspannte Treiben der Insel genießen. „Ich würde mir allerdings noch mehr Kunden wünschen,“ verrät sie. „Ich stehe ja noch am Anfang, aber so langsam bekomme ich auch mehr Anfragen. Zum Beispiel gewinne ich auch neue Kunden hier vor Ort, da ergeben sich viele schöne neue Möglichkeiten für mich.“
Noch ist Sonia Jaeger damit in ihrem Berufsstand sicherlich noch die Ausnahme. Als sie die Entscheidung traf, sich nicht wie ihre Kollegen fest an einem Ort zu etablieren, erntete sie deshalb vor allem Verwunderung und Skepsis. Auch ihre Eltern waren nicht unbedingt angetan von der Idee, dass ihre Tochter, die sich fachlich schon etabliert, erfolgreich promoviert und bereits 30 Mitarbeiter unter sich hatte, nun alles aufgeben und auf Weltreise gehen wollte. Darin sieht die 34-Jährige auch einen großen Unterschied zwischen sich und anderen digitalen Nomaden: „Die meisten digitalen Nomaden, die dieses Leben starten, sind ja noch sehr jung und wollen noch herausfinden, was sie überhaupt im Leben machen wollen. Dadurch, dass ich mir schon so viel aufgebaut hatte, war viel weniger Verständnis dafür da, dass ich dies alles aufgeben wollte.“ Doch Sonia Jaeger sah dies nicht so sehr als Aufgeben, sondern eher als persönlichen Gewinn. Anstatt für andere zu arbeiten und sich für eine andere Person zu verausgaben, ist sie nun selbständig und kann sich selbst ihre Ziele stecken. Ihr gefällt auch die Idee, dass sie nicht dauerhaft an einem Ort bleiben muss, sondern in ihrem eigenen Rhythmus die Welt entdecken kann.
Sind digitale Nomaden die Psychologen der Zukunft?
So hat sie auch festgestellt, dass immer mehr Psychologen und Psychotherapeuten die Online-Nische für sich entdecken. So ganz unproblematisch ist dies nicht, da der Begriff der Onlineberater rechtlich nicht geschützt ist. Das heißt: Jeder kann im Prinzip ein Onlineberater sein und für Patienten ist es schwierig von außen zu entscheiden, wem sie sich mit ihren Problemen anvertrauen können und wer tatsächlich die nötigen Qualifikationen hat, um zu helfen. Doch Jaeger glaubt, dass sich das in Zukunft auch ändern wird. Früher oder später werde sich die Spreu vom Weizen trennen und angesichts der sehr langen Wartezeiten für psychologische und psychotherapeutische Beratung in Deutschland, suchen auch immer mehr Patienten die Online-Hilfe. Jaeger vermutet, dass es sogar auch in naher Zukunft spezielle Ausbildungen für Onlinepsychologen geben könnte. „Dadurch, dass auch tatsächlich immer mehr Menschen mobil leben und es mehr digitale Nomaden gibt, wird es auch in Zukunft mehr Menschen geben, die sich eine mobile Beratung wünschen“, glaubt Jaeger.
Doch das ist erstmal noch Zukunftsmusik. Bis dahin möchte sich Sonia Jaeger weiterhin auf ihr eigenes digitales Leben konzentrieren. Sie plant bereits ihre nächsten Stationen: Zunächst möchte sie ein paar Monate in Deutschland mit Freunden und Familie verbringen, bevor es dann im Herbst 2016 nach Lateinamerika geht. Und danach? Davon lässt sich Sonia Jaeger gerne überraschen.