Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: Das Ein-Wochen-Fazit von Übermedien.
„Lügenpresse, halt die Fresse!“ Diese Form der Medienkritik findet man seit über einem Jahr auf Deutschlands Straßen in gehäufter Form. Anhänger von Pegida & Co sagen den etablierten Medien damit: „Wir glauben euch nicht mehr.“ Auch andere beschäftigen sich mit Medienkritik, versuchen aber, anders als der gemeine Pegidist, rational über Medien, deren Verfehlungen und Glanzleistungen zu schreiben. Stefan Niggemeier, vor allem bekannt durch bildblog.de und seine Texte für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, hat vor einer Woche gemeinsam mit Boris Rosenkranz, der unter anderem beim NDR Autor für ZAPP und extra3 ist, eine neue Seite für Medienkritik ins Leben gerufen.
Die Lügenpresse-Rufe seien kein konkreter Anlass gewesen für die Seite, sagt Niggemeier. „Die Heftigkeit der Debatte über die Medien und ihre echten und vermeintlichen Missstände hat sich aber so verschärft, dass wir gute Medienkritik wichtiger finden denn je.“ Zwei Ziele hat ihr Projekt, das sich Übermedien nennt: Erstens, vollkommen unabhängig Medienjournalismus zu betreiben, das zu kritisieren, was es zu kritisieren gilt, aber auch das positiv herausstellen, was sich Lob verdient hat. Zweitens, von diesem Medienjournalismus den Unterhalt zu verdienen. Übermedien bietet einen Mix aus kostenlosen und temporär exklusiven Inhalten, nach sieben Tagen wandern die kostenpflichtigen Inhalte in das frei zugängliche Archiv. Direkten Zugang zu allen Texten, Videos und Bildern bekommen diejenigen, die für 3,99 Euro ein jederzeit kündbares Monatsabo abschließen.
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Übermedien: Lohnt sich das?
Damit jegliche Kolumnisten- und Autorentätigkeit der Übermedien-Macher überflüssig wird, bedarf es nach Aussage Niggemeiers „einiger Tausend“ Abonnenten. Neues begeistert mich erst einmal immer schnell. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann oft, dass viele neue Produkte und Ideen unausgereift, schlecht durchdacht, mies ausgeführt sind. Und Niggemeiers und Rosenkranz‘ Medienjournalismus-Plattform? „Wir zeigen, was schief läuft in den Medien, aber auch ihre Glanzleistungen“, heißt es auf übermedien.de. Und: „Wir wollen uns frei machen von […] Rücksichtsnahme, indem wir uns von Verlagen und Sendern unabhängig machen.“ Außerdem: „Wir setzen uns genau und kritisch mit Medien auseinander“. Mir stellten sich vor einer Woche zwei Fragen: Lohnt sich das? Mache ich da mit?
Erst einmal müssen die Banalitäten abgehandelt werden. Warum hat das Ü auf dem Logo des Projekts der beiden Männer mit den vertrauenserweckenden Bärten drei Punkte? „Weil es mit drei Fragezeichen komisch ausgesehen hätte“, sagt Niggemeier zu BASIC thinking. Außerdem bliebe so Raum für Interpretationen. Sieht auf jeden Fall interessant aus, genau wie der Rest der Seite schlüssig daherkommt und sich gut und schlicht macht. Hier geht es um Medien, nicht um ein flippiges Auftreten. Das GIF mit Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo ist allerdings ein Blickfang.
Ein Sack Reis, Feuerwerk und die Klickmaschinerie
Zum Start von Übermedien haben di Lorenzo und Niggemeier sich über Medienkritik gestritten. Herausgekommen ist ein sehr interessantes Gespräch zwischen den beiden Exzentrikern, di Lorenzos Vorwurf, sein Gegenüber sei ein Fehlerfetischist, und das Ergebnis, dass gute Medienkritik notwendig ist. Was „gut“ bedeutet, darüber gehen die Meinungen hin und wieder auseinander. Da das Interview mit di Lorenzos Aussage endet, er wünsche sich Stefan Niggemeier herbei, bleibt nur die Interpretation, dass dieser es genauso sieht. Man wünscht sich, ein besorgter Bürger würde das Streitgespräch studieren und verstehen, dass es da mehr gibt zwischen wahr und falsch, Lügenpresse und Wahrheitsmedien. Ein hehres Streben, das sein Ziel womöglich nicht erreicht.
Eine wirklich famose Bildersammlung zeigt, wie verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Webseiten mit Meldungen über einen Sack Reis umgehen würden. Dabei wird auch bildblog.de persifliert, die Message soll wohl sein: Wir nehmen keine Rücksicht – auch nicht auf uns. Ein Beitrag von Rosenkranz über einen Nachrichten-Werbung-Mix bei RTL West beschäftigt sich mit einem Bericht über eine mit RTL eng verbundene Feuerwerksfirma. Eine Kolumne des gleichen Autors über die undemokratischen Auswüchsen, die sich im SWR zeigen, wenn darüber nachgedacht wird, aus Angst vor dem Fernbleiben der großen Parteien die AfD aus Diskussionsrunden auszuladen, zeigt, dass es falsch wäre, sollte der SWR einknicken. (Leider hat er es dann trotzdem gemacht.) Boris Rosenkranz ist es dann auch, der in einem gut dreiminütigen Clip die Klickmaschinerie des Focus auseinandernimmt. Journalisten mit einem gewissen Anspruch an ihre Arbeit kann die Weise, auf die das Magazin Bewegtbilder produziert, nur anwidern. Die drei genannten Beispiele sind meiner Meinung nach Exemplare guter Medienkritik – und nicht die einzigen auf Übermedien.
Balsam in komplizierten Zeiten
Die Kolumne von Peter Breuer, der in Zukunft regelmäßig über Zeitschriften und Magazine aus der Bahnhofsbuchhandlung schreibt, macht mit der ersten Ausgabe über ein Uhrenmagazin große Lust auf mehr. Eric Bonse zeigt in einer hochinteressanten Analyse, warum sich in der öffentlichen Wahrnehmung der EU-Politik meist die deutsche Sichtweise durchsetzt, und verweist dabei auf Verfehlungen der Regierung Merkel und der Europa-Journalisten. Und das Zeichner-Duo Hauck & Bauer haut geradezu auf den Putz mit seinem Cartoon „Die Wahrheit“. Besonders gut gefällt mir persönlich der Beitrag über die aktuell zurecht kritisierte WDR-Journalistin, die während eines Radio-Interviews eine seltsame Auffassung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks offenbarte. Stefan Niggemeier tut gut daran, die Dame nicht verbal zu schelten, nicht von Blödsinn oder Lügen zu sprechen.
Stattdessen hat er sich die Mühe gemacht, ihre Kollegen zu befragen und herauszufinden, ob eine Einflussnahme seitens der Regierung stattfindet. Er kommt zu dem Schluss: „Vielleicht hat sie am Sonntag versehentlich etwas zugegeben, was nicht an die Öffentlichkeit sollte. Vielleicht hat sie aber tatsächlich nur totale flauwekul erzählt.“ Ganz klar für alle ersichtlich ist, dass man schlichtweg nicht weiß, ob es in diesem Fall einen Auftrag von oben gibt oder nicht. Die einen sagen jetzt: Die Frau tickt nicht mehr sauber und ist übergeschnappt, solchen Unsinn zu verbreiten. Die anderen meinen: Wir wussten es doch schon lange und endlich spricht es jemand aus. Nein, falsch. Wir wissen nicht, was stimmt und was nicht. Punkt. Keine Spekulationen. Die lässt auch Niggemeier bleiben und das ist Balsam in diesen komplizierten Zeiten.
Fazit: „Was ermögliche ich damit?“
Der einzige bislang exklusive Beitrag ist ein Gespräch mit Anne Will. Dieser eine Beitrag, den ich noch nicht lesen kann, wäre es mir persönlich nicht wert, 3,99 Euro im Monat zu zahlen. Wenn man aber darüber nachdenkt, was Übermedien erreichen will, nämlich unabhängig Journalismus über Journalisten zu machen, dann ist das eine ehrenvolle Aufgabe, die sicher unterstützenswert ist. Ich will in der Medienkritik die Grauzonen sehen, ich möchte hören, „ja, da ist es nicht gut gelaufen, aber…“ oder „das war Mist, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn…“ und „das hat mit gutem Journalismus nichts am Hut“, hin und wieder aber auch „ein tolles Beispiel für gute Berichterstattung“.
Das alles erhoffe ich mir von Übermedien. Vielleicht werde ich irgendwann enttäuscht und Niggemeier und Rosenkranz nehmen doch mehr Rücksicht auf manche als auf andere. Aber dann ist das so und sie sind gescheitert. So, wie es bislang aussieht, lohnt es sich. Nicht für exklusive Beiträge, denn sieben Tage Geduld, bis ich alles kostenlos bekomme, schaffe ich schon irgendwie. Viel eher bin ich gerne bereit, 3,99 Euro zu zahlen, damit gute Medienkritik überhaupt stattfinden kann. Nicht immer fragen: „Was habe ich davon?“ Viel eher mal: „Was ermögliche ich damit?“
Meine Entscheidung steht fest: Ich mache da jetzt mal mit.