Ich fahre gerne und oft mit der Deutschen Bahn. Und ich bin im Großen und Ganzen sehr zufrieden mit den Zügen. Sie sind sauber, das Personal ist meist freundlich – und im Gegensatz zu den Berichten vieler anderer Reisender haben sich die Verspätungen meiner Züge bis auf wenige Ausnahmen immer in Grenzen gehalten.
Doch was ich gestern im Regionalexpress erlebt habe, hat mich – ziemlich aufgeregt. Nicht weil der Grund meiner fast vierstündigen Verspätung nur bei der Bahn gelegen hätte. Sondern weil die Informationspolitik des Unternehmens sich einmal mehr als miserabel herausgestellt hat.
Doch beginnen wir am Anfang, gegen drei Uhr Nachmittags. Ich befinde mich auf einem Bahnhof auf der Strecke zwischen dem fränkischen Würzburg und der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. Hier verkehrt die Linie RE 7 der Deutschen Bahn, lange, rote Züge, die sich aufgrund ihrer modernen Neigetechnik schön in die Kurven legen können und die Fahrzeit zwischen den beiden Städten auf etwas über zwei Stunden verkürzt haben.
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Ausfall der Neigetechnik
Doof ist auch heute, dass die Bahn seit Wochen ohne diese Neigetechnik fährt und deswegen den Fahrplan nicht einhalten kann, wie es auf der Website heißt:
Die Deutsche Bahn wird ab 19. Dezember bei den 36 in Thüringen stationierten Regional-Zügen der Baureihen 612 die Neigetechnik abschalten. Grund ist die Überprüfung von Funktionsfehlern, die im Neigetechnik-Antrieb eines Fahrzeugs festgestellt wurden. Da der sichere Betrieb der DB-Fahrzeugflotten oberste Priorität hat, bleibt die Neigetechnik abgeschaltet, bis die Ursache der Funktionsfehler abschließend geklärt ist und wirksame Maßnahmen zu ihrer Behebung ergriffen werden können.
Mit 18 Minuten Verspätung erreicht der Zug also meinen Bahnhof. Da ich bereits während der Fahrkartenbuchung auf diesen Umstand hingewiesen wurde, erscheine ich erst wenige Minuten vor tatsächlicher Abfahrt am Gleis. Bis zum Bahnhof Plaue in Thüringen, der eine halbe Fahrstunde vor dem Erfurter Hauptbahnhof, liegt, geht alles gut. Zwar hat der Regionalexpress noch immer jede Menge Verspätung, aber es ist in Anbetracht der technischen Gegebenheiten im Rahmen.
Abfahrt verzögert sich „auf unbestimmte Zeit“
In Plaue also, einem etwas heruntergekommenen Bahnhof, der noch immer ein wenig an DDR-Zeiten erinnert, steht der Zug etwas länger als gewöhnlich. Dann eine Durchsage: „Aufgrund eines Notarzteinsatzes am Gleis verzögert sich die Abfahrt unseres Zuges auf unbestimmte Zeit“, heißt es. Dann schaltet der Lokführer den Motor aus, auch die Klimaanlage verstummt für eine Minute. Ein paar Stimmen kann man hören, ansonsten ist es verblüffend still um mich herum.
Es ist jetzt Viertel nach vier, langsam wird es draußen dunkel. Immerhin schon nach etwa 15 Minuten kommt ein Schaffner durch den Zug gelaufen und erzählt, dass es mit Bussen weitergehen soll. Aus dem Zug ausgestiegen frage ich einen Bahnmitarbeiter, ob die Busse vor dem Bahnhofsgebäude halten würden. Er kann mir die Frage nicht beantworten.
So viele Leute wie heute hat der Bahnhof Plaue wohl lange nicht mehr gesehen. Plötzlich wird einem klar, wie viele Menschen ein gar nicht mal so voller Regionalexpress befördert. Neben und vor dem Bahnhof stehen viele junge Leute, einige rauchen, ein paar haben sich um einen Mitarbeiter der privaten Erfurter Bahn geschart, der offensichtlich keine Ahnung hat, wie es heute weitergehen soll. Er steht an diesem Sonntagnachmittag etwas verloren da, genauso wie all die Reisenden.
17:09
Tatsächlich: Ein Bus kommt vorgefahren, nach knapp einer Stunde Wartezeit am Bahnhof. Der Busfahrer ruft, dass er nicht bis zum Erfurter Hauptbahnhof fahre, sondern nur bis Neudietendorf, einem kleinen Ort und Umsteigebahnhof im Speckgürtel der thüringischen Landeshauptstadt. Von da aus müssten die Fahrgäste wieder in einem Regionalzug umsteigen, um bis Erfurt zu kommen.
Gedrängel am Bus
Ganz erschließen kann sich mir diese Logik nicht, aber sei es drum. Immerhin ist ein Bus da. Natürlich wird gedrängelt, und irgendwann sind die 52 Sitzplätze belegt. Um die 150 Leute (mittlerweile sind noch zwei weitere kleine Züge angekommen) bekommen keinen Platz, auch ich nicht. Wir werden vom Busfahrer vertröstet, es komme ein zweiter, größerer Bus, man müsse sich allerdings in eine Parallelstraße begeben, wo dieser dann halten soll. Ein mit Rollkoffern bewaffneter Treck läuft also eine Minute später über den mitgenommenen Asphalt zur 500 Meter entfernten Bushaltestelle. Hier tut sich erst einmal gar nichts. Bis auf einem entnervten Berliner, der einen vermutlich unschuldigen Bahnmitarbeiter am Telefon malträtiert, bleibt es erstaunlich ruhig.
17:35
Einige Leute laufen Richtung Bahnhof. Wie es aussieht, sind zwei vorausgelaufen, andere einfach hinterher. So ist das ja manchmal in Deutschland. Um die 100 Leute bleiben, wo sie sind und warten weiter auf den angekündigten Bus.
Ein Böller in der Stille
17:41
Entfernt ertönt ein wohl von Silvester übrig gebliebener Böller, ansonsten Totenstille, einzig die wohl noch aus DDR-Zeiten stammenden Straßenlaternen werfen ein wenig Licht auf die ungemütliche Dorfstraße neben den maroden Plattenbauten. Es ist mittlerweile stockdunkel und auch ein wenig kalt.
17:44
Einige Bahnfahrer kommen vom Bahnhof zurück, ein Anwohner fährt etwas irritiert mit seinem alten Fahrrad an der wartenden Menge vorbei, dann ein Opa mit blinkendem Radhelm und ein Teenager.
17:58
„Es kommt kein Bus mehr“, schreit eine 20-Jährige die Straße herunter. Das habe der Lokführer der Privatbahn gesagt, antwortet sie mir auf Nachfrage. Alle, die bis jetzt unter den Laternen gewartet haben, gehen samt Gepäck wieder in Richtung Bahnhof. Der Regionalexpress der Deutschen Bahn, mit dem ich ursprünglich gekommen war, hat mittlerweile seine digitale Zielanzeige geändert, offensichtlich wird er nicht weiterfahren, sondern zurück nach Würzburg.
Wo geht’s hier nach Hameln?
Dafür stehen am Gleis daneben zwei gekoppelte Shuttles der Erfurter Bahn. Ein junger Iraker, wie er mir sagt, um die 12 Jahre alt, fragt mich, ob er jetzt hier richtig sei, er wolle nach Neudietendorf und dann weiter über Göttingen und Hannover nach Hameln. Zwei ältere Herren, die mit ihm reisen, vermutlich Verwandtschaft, scheinen sich zu freuen, als ich ihm zu verstehen gebe, dass die Richtung stimmt.
18:01
Der Lokführer der Erfurter Bahn sagt mir, dass er zwar nicht wisse, wann es nun weitergehe, er aber mit seinem kleinen Zug der erste sei, der losfahren würde, wenn es so weit sei. Die Tour würde sich auf jeden Fall lohnen, denn der Zug ist – sehr voll.
18:09
Ein Regionalexpress aus Würzburg fährt in den Bahnhof ein. Er steht jetzt neben dem Zug, mit dem ich ursprünglich gekommen war und der wenige Minuten später, um 18.11 Uhr, zurück gen Franken fährt.
18:18
Mal wieder fliegender Wechsel
Der Lokführer der Erfurter Bahn ist offensichtlich doch nicht der erste, der weiterfahren darf. Er macht eine Durchsage, dass nicht er, sondern der vor wenigen Minuten eingefahrene Regionalexpress der Deutschen Bahn weiter Richtung Erfurt fahre. In diesem Moment strömen alle Passagiere aus den kleinen Shuttles auf den Bahnsteig, durch die Unterführung und in den bis dato moderat gefüllten RE.
18:20
Ich gehe bis zur Zugspitze und frage den Lokführer durch sein kleines Fenster, wann es weitergehe. Der das Chaos verursachende Unfall sei zwischen dem Betriebswerk Arnstadt und Arnstadt Hbf passiert, sagt der. Bis dorthin würde es nun gleich weitergehen, dann allerdings müsse man wieder warten.
18:21
„Einsteigen“, ruft der Lokführer seinen Zug entlang. Und tatsächlich: Um 18:23 Uhr, nach über zwei Stunden Warten in der Kälte, geht es weiter. Ein Stück zumindest. Etwa zehn Minuten später hält der Regionalexpress im Hauptbahnhof von Arnstadt nämlich wieder. Die elektronischen Infoscreens zeigen „40 Minuten Verspätung“ an.
Wartezeit: ungewiss
18:48
Die Anzeige wechselt von 40 auf 45 Minuten Verspätung, wenige Minuten wird der Wert auf 75 Minuten nach oben korrigiert. Im Zug werden die Fahrgäste weiterhin im Unklaren gelassen. Keine Durchsage, nichts.
19:04
Ich frage bei der Bahn per Twitter an, wie lange es noch dauern würde, bis es weitergeht.
19:12
Der Zug fährt ohne Durchsage am Bahnsteig oder im Zug los, allerdings in die falsche Richtung. Unser Regionalexpress befinde sich jetzt auf dem Abstellgleis, sagt ein Mitfahrer. Keine Ahnung, ob das stimmt oder ein Scherz sein soll. Lachen jedenfalls tut niemand. Ich stehe mit fünf anderen, einer jungen Mutter und ihrem plötzlich losschreienden Kind im Eingangsbereich des überfüllten Zuges. Draußen ist es dunkel, nichts ist zu sehen.
19:19
Ich habe eine Antwort auf Twitter erhalten. Helfen kann man mir leider nicht. Mit 75 Minuten Verspätung müssen wir rechnen, heißt es.
19:24
Endlich: Der Lokführer meldet sich mal wieder bei seinen Fahrgästen, in 15 Minuten gehe es weiter, sagt er.
19:45
Der Zug setzt sich in Bewegung, diesmal wieder in die richtige Richtung. Nach zwei Minuten hält er erneut auf Gleis 1 des Arnstädter Hauptbahnhofs.
19:46
Der Lokführer sagt durch, das Gleis Richtung Erfurt sei jetzt freigegeben, in wenigen Minuten soll es weitergehen.
19:51
Der Zug rollt los.
Auto wäre heute besser gewesen…
19:52
„Im Moment haben wir 105 Minuten Verspätung“, sagt der Lokführer durch. Davon kann ich nur träumen. Ich bin mittlerweile 226 Minuten zu spät, 3 Stunden und 46 Minuten. Das hat mich etwas verstimmt, zumal ich am Mittag noch darüber nachgedacht hatte, das Auto zu nehmen.
20:04
„Mit 105 Minuten Verspätung erreichen wir in wenigen Minuten Erfurt Hbf“, verspricht der Lokführer, „wir bitten die Verspätung zu entschuldigen“. Immerhin, eine Entschuldigung.
Die Bahn kann natürlich nichts für Notfalleinsätze und die Disposition hat durch das entstandenen Chaos gestern viel zu tun gehabt. Was mich nur wirklich wieder einmal aufgeregt hat (und auch nicht zum ersten Mal), war die miserable Informationspolitik. Kann es sein, dass in unseren digitalen Zeiten Zugbegleiter offensichtlich keine verlässlichen Informationen über Weiterreisemöglichkeiten ihrer Fahrgäste erhalten?
Und sollte das nicht funktionieren: Warum ist es nicht möglich, die Fahrgäste in regelmäßigen Abständen zumindest über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren? Manchmal reicht ein einfaches, menschliches: „Wir wissen leider derzeit selbst nicht mehr und bitten Sie um Verständnis für das Chaos“. Stattdessen werden automatisiert irgendwelche Fantasiewerte auf die Infotafeln projiziert, die keinem weiterhelfen, ja sogar das Gefühl provozieren, dass sich niemand kümmert.
Die Deutsche Bahn möchte modern sein und (auch in Anbetracht der Konkurrenz durch den Fernbus) tollen Service bieten, aber an Tagen wie dem gestrigen merkt man, dass der Weg hin zu einem wirklich kundenorientierten Unternehmen noch ein weiter ist.