Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: Die experimentelle Langeweile-App Borapp.
„Ich habe Langeweile“. Dieser Satz verlässt den Mund selten in einem fröhlichen Ton, der impliziert, dass Langeweile etwas Gutes sei. Im Gegenteil. Gequält klingend wendet man sich mit der Aussage meist an eine Person, in der Hoffnung, diese Person möge die Langeweile vertreiben und einen unterhalten oder etwas Interessantes vorschlagen. Wer schon einmal im Büro gesessen und den Bildschirm angestarrt hat, ohne zu wissen, was man Sinnvolles tun könnte, weiß, wie grausam Langeweile sein kann. Andererseits wünscht man sich oft ein paar Minuten der Langeweile und Entspannung, wenn man unter Dauerstrom steht und von Termin zu Termin hetzt. Und immer wieder führt Langeweile dazu, auf neue Ideen zu kommen, sich selbst eine neue Perspektive zu erdenken.
Langeweile gibt es wohl schon, seit es die Menschheit gibt. Seit die dauerhafte Ablenkung aber in Form des Smartphones in der Hosentasche steckt, gibt es auch für die Forschung ganz neue Möglichkeiten, die Langeweile für sich zu entdecken. Das spanische Team von Telefonica Research hat gemeinsam mit der Universität Stuttgart eine Reihe von Studien zum Zusammenhang zwischen Langeweile und Smartphone-Nutzung gemacht. Das bekannteste Ergebnis dieser Studien, über das wir auch schon bei BASIC thinking geschrieben haben, ist die Borapp. Sie soll anhand des Nutzungsverhaltens am Smartphone feststellen können, ob der Nutzer gerade gelangweilt ist. Ist dies der Fall, bekommt er eine Pushmeldung auf den Bildschirm, die ihm vorschlägt, einen Buzzfeed-Artikel zu lesen. Ich wollte wissen, ob das funktioniert, was das für Online-Medien bedeutet und ob Langeweile überhaupt etwas wirklich Schlechtes ist. Also habe ich mir Borapp Buzz, wie sich die App aktuell nennt, auf mein Smartphone geladen und sie getestet.
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Borapp: Bislang nur für Android
Die aktuelle Borapp-Version, Borapp Buzz, ist laut Forschungsteam eine Weiterentwicklung von Borapp1 und Borapp2. In der ersten Forschungsstufe haben 54 Studienteilnehmer für zwei Wochen ihr Nutzungsverhalten überprüfen lassen und regelmäßig Auskunft über den Grad ihrer Langeweile gegeben. Borapp2 nutzte diese Daten und einen daraus entwickelten Alogrithmus, um zu bestimmen ob ein Smartphone-Nutzer gerade gelangweilt ist und testete, ob Pushmeldungen häufiger als sonst geklickt werden, wenn die App vermutet, dass gerade Langeweile vorherrscht.
Das Ergebnis: Durchschnittlich öffneten 20,5 Prozent der Nutzer die Pushmeldung, wenn Langeweile prognostiziert wurde. Herrschte laut App keine Langeweile, so lag der durchschnittliche Wert bei nur acht Prozent. Bei Borapp Buzz sollte die Genauigkeit nun logischerweise noch höher liegen und ich war gespannt, ob eine Maschine es wirklich schafft, Langeweile bei mir zu entdecken. Jeder kann diesen Test auch selber unternehmen, vorausgesetzt, man besitzt ein Android-Gerät. Momentan gibt es die App nur im Google Play Store.
Paranoiker sollten die Finger von der App lassen
Bevor man überhaupt loslegen kann, muss man der App nach dem Download zunächst zahlreiche Genehmigungen erteilen. Zu Beginn muss man zustimmen, dass die App anonym im Hintergrund Daten sammeln darf, damit das Langeweile-Erkennungs-System verbessert werden kann. Persönliche Daten würden nicht gesammelt, heißt es. Im nächsten Schritt erlaubt man der App, zu überwachen, wann man eine andere App verwendet. Der Schritt, der danach folgt, lässt mich stutzen. Borapp Buzz soll Zugriff auf Benachrichtigungen bekommen, was bedeutet, dass die App auch persönliche Informationen und Nachrichten auslesen kann. Scheinbar ist diese Überwachung aber nötig für ein Funktionieren des Services, da so wichtige Informationen für den Prognose-Algorithmus gewonnen werden. Die App verspricht zudem, dass die Daten das Gerät nicht verlassen werden. Ich hoffe es und stimme zu.
Anschließend muss noch die Ortung zugelassen werden, da laut App Menschen an manchen Orten gelangweilter seien als an anderen. Im letzten Schritt werden noch Alter und Geschlecht erfragt. Hat man allem zugestimmt und die Informationen bereitgestellt, heißt es: „Awesome! Borapp is running! You should now from time to time receive Buzzfeed recommendations.“ Die erste Erkenntnis nach dem Einrichten von Borapp: Wer unter Verfolgungswahn leidet, sollte die Finger von der App lassen.
Ernüchterndes Ergebnis
Während ich diesen Artikel schreibe, befinde ich mich mitten im 17. Tag des Borapp Buzz-Tests. Meine Statistiken sehen wie folgt aus:
- Days participated: 17
- Buzzfeed articles suggested: 49
- Buzzfeed articles opened: 2
49 Mal haben mich Pushmeldungen erreicht, in denen mir Buzzfeed-Artikel vorgeschlagen wurden. Zwei davon habe ich angeklickt. Ernüchternd. Vor allem, wenn man dazu noch bedenkt, dass ich beim ersten Klick sehen wollte, wie auf den Buzzfeed-Artikel übergeleitet wird, und der zweite Klick ein Versehen war. Eine kleine Auswahl der Male, in denen ich Artikel-Vorschläge von Borapp Buzz bekommen habe, will ich nicht vorenthalten: Beim Zähneputzen lese ich Nachrichten, zack. Ich sitze bei den Medientagen in München, scrolle durch dutzende Tweets, zack. Ich bin Beifahrer, google etwas, gebe dann bei Maps einen Zielort ein, zack. Ich habe mein Handy in der Hosentasche, zehn Minuten vorher habe ich einen Tweet abgesetzt, danach das Gerät nicht mehr angerührt, zack. Ich wache auf, lese eine Nachricht bei WhatsApp, antworte und lege das Smartphone auf Seite, zack. Es könnte noch lange so weitergehen, das Muster würde sich nicht ändern. Ich kann festhalten: Ich war kein einziges Mal gelangweilt, wenn Borapp mich auf einen Buzzfeed-Artikel hinwies.
Bin ich nie gelangweilt?
Ich empfinde zur Zeit selten Langeweile, es stehen viele Termine an und ich frage mich, ob ich mir momentan überhaupt einen freien Sonntag leisten kann. Trotzdem gibt es immer wieder Augenblicke, wenige Minuten meist, in denen man die Decke anguckt, nicht weiß, was man tun soll, und Zerstreuung sucht. Und wenn das nur die fünf Minuten sind, die man auf die Bahn warten muss: Hin und wieder bin ich schon gelangweilt. In diesen fünf Minuten hat sich die Borapp aber nie bei mir gemeldet.
Ich habe bei den Machern nachgefragt, warum ich trotzdem Vorschläge bekommen habe und ob die App lernt, dass sie bei mir falsch liegt und ihr Verhalten dahingehend anpasst. „Das System beruht auf der Erkennung typischer Verhaltensmuster gelangweilter Personen aus unserer ersten Nutzerstudie“, sagt Nuria Oliver von Telefonica Research. Wenn meine persönlichen Gewohnheiten sich davon unterscheiden, funktioniere die Erkennung der Langeweile bei mir unter Umständen nicht, fügt sie hinzu und erzählt, dass die App momentan noch nicht vom Nutzer lernen und sich anpassen könne. Man wisse aber um die Notwendigkeit, das System zu verbessern. „Momentan ist eine solche Anwendung aber noch in der Forschungsphase“, wirft sie zumindest einen Blick auf das, was noch kommen könnte.
Borapp: Interessant für Werbung
Im Alltagstest ist die App bei mir gescheitert. Überlegen wir aber einmal, was es bedeuten würde, wenn eine Maschine wirklich Langeweile perfekt bestimmen könnte. Um einen funktionierenden Algorithmus in die Hände zu bekommen, würden Verlagschefs vermutlich eine ganze Stange Geld in die Hand nehmen. Menschen gezielt auf ein Angebot zu führen, wenn sie gerade empfänglich für Unterhaltung und Ablenkung sind, eröffnet die Möglichkeit, die Reichweite zu erhöhen und ist besonders für Werbepartner hochinteressant. Kennt man die Interessen eines Nutzers und weiß, dass er gerade gelangweilt im Wartezimmer beim Arzt sitzt, kann man ihm mit einem funktionierenden Algorithmus auf ihn zugeschnittene Native Ads senden.
Selbstverständlich kann man so auch das Interesse an einem Medium selber gezielt fördern. Und wenn dann nicht nur ein bestimmtes Angebot – wie Buzzfeed im Falle von Borapp Buzz – für Vorschläge genutzt wird, sondern auf individuelle News-Bedürfnisse abgestimmte Pushmeldungen die Langeweile unterbrechen, hat auch der Nutzer einen Mehrwert, der die bloße Zerstreuung weit übersteigt.
Langeweile ist nicht per se schlecht, Borapp auch nicht
Als ich das erste Mal von der Borapp-Idee hörte, schüttelte ich meinen Kopf. Warum nicht einfach mal Langeweile Langeweile sein lassen?, dachte ich mir. Brauchen wir wirklich die Selbstoptimierung in einem Maße, in dem jede freie Sekunde für etwas „Sinnvolles“ genutzt wird? Nein. Langeweile kann auch unglaublich wohltuend sein und ein Quell der Kreativität. Im Grunde genießt man doch die wenigen Minuten, die man beim Warten auf die Bahn nicht unter Strom steht, sondern einfach mal den Blick schweifen lässt. Professor Dr. Harald Walach, Psychologe und Universitätsprofessor mit dem Forschungsschwerpunkt Komplementärmedizin, hat kürzlich in der TV-Beilage prisma Stress die „Naturkatastrophe der modernen Zeit“ genannt. Um dieser Katastrophe nicht ununterbrochen hinterher zu hecheln, empfiehlt er unter anderem: „Reduzieren Sie die Informationsflut.“ Bekommt man nun in jeder noch so freien Minute, in denen man die Gedanken fliegen lässt, noch einen und noch einen Artikel vor die Nase gesetzt, kann Stress unmöglich abgebaut werden.
Borapp kann wie dargelegt dazu führen, dass das Refugium der Langeweile angegriffen wird. Ebenso kann es aber auch ein Mittel sein, um in Zeiten der Langeweile kreativ tätig zu sein oder gar für Ruhe zu sorgen. Das wissen auch die Forscher, die Borapp entwickelt haben. Auf meine Nachfrage zählen sie vier Möglichkeiten der Anwendung auf: „Unser neues Langeweile-Prognose-System könnte interessante Aktivitäten oder Inhalte vorschlagen, Benachrichtigungen blocken, wenn der Nutzer nicht gelangweilt ist, Menschen daran erinnern, Aktivitäten auszuführen, die nicht unbedingt die Langeweile vertreiben, etwa Später-Lesen-Listen abzuarbeiten oder Vokabeln zu lernen und zu guter letzt auch Nutzer dazu anhalten, die Langeweile anzunehmen, das Smartphone auszuschalten und die Gedanken wandern zu lassen.“ Bei der letzten Anwendungsmöglichkeit könne die Welt beobachtet werden, fügt Nuria Oliver hinzu. Eine Fähigkeit, die unsere Spezies mehr und mehr verliere.
Vielleicht bietet mir Borapp auch in Zukunft einen kurzen Denkanstoß, der zu kreativem Output führt. Das könnte etwa eine offene Frage sein zu einem Thema, das mich interessiert. Ich könnte meinen Gedanken freien Lauf lassen und gleichzeitig das Nichtstun genießen. Wenn die App lediglich dazu da ist, um mir einen Artikel vorzuschlagen, wenn ich gerade mal ein paar Minuten durchschnaufe, kann ich getrost auf sie verzichten. Dass meine Meinung Verlage davon abhält, genau das trotzdem zu tun, halte ich für aussichtslos.
Hättest du gerne eine App, die dich bei Langeweile ablenkt? Wie könnte Borapp noch genutzt werden? Ist Langeweile etwas Gutes und Borapp total überflüssig? Findest du, dass jede freie Minute genutzt werden muss und Langeweile schädlich ist? Schreib mir hier in den Kommentaren oder auf Twitter (@hendrikgee) mit #Mediendschungel.