Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: Journalistische Experimente bei Periscope.
Die Welt der Nachrichten ist einem Wandel unterzogen, der vor allem auf ein Ziel hinführt: Unmittelbarkeit. Wer wartet heute noch auf die Tageszeitung, um Meldungen über die Bundespolitik, Naturkatastrophen am anderen Ende der Welt oder den Ausgang eines Sportereignisses zu lesen? Diese Art von Nachrichtenkonsumenten gibt es noch, doch besteht Konsens darüber, dass sie eine aussterbende Spezies sind. Wenn herauskommt, dass die Schweizer Behörden gegen FIFA-Chef Blatter ermitteln, erfahre ich das wenige Minuten, nachdem diese Information an die Presse gegangen ist, aus den digitalen Kanälen. Und wenn das Bundeskabinett das geplante Asyl-Gesetzespaket final beschließt, brauche ich nicht auf den nächsten Morgen zu warten, damit mir die Tageszeitung diese Nachricht übermittelt.
Zeitungen, Nachrichtenagenturen und auch klassische Nachrichtenseiten im Internet hatten lange das Monopol auf Informationen, Breaking News und die ersten Berichte von den Orten des Geschehens. Vor allem Facebook und Twitter haben dieses Monopol aufgesprengt. Jeder kann sich heute sein Smartphone schnappen, rausgehen und berichten, analysieren und erzählen. Nicht jeder hat das Zeug dazu, klar, aber möglich wäre es. Im Video-Bereich aber gab es lange ein Vakuum bei den citizen reporters. Jeder konnte filmen und das Gefilmte kommentieren, um es dann auf YouTube oder Vimeo hochzuladen, doch mit Unmittelbarkeit hatte das nur konzeptionell zu tun. Fernsehanstalten brauchte es zwar nicht mehr, doch zeitliche Unmittelbarkeit war so noch nicht zu erreichen. In genau diese Lücke stoßen Livestreaming-Dienste wie Periscope. Welchen Nutzen sie für den Journalismus hat und wie Periscope-Journalismus aussehen sollte, darum geht es in dieser Ausgabe von Mediendschungel.
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Periscope ist der Gewinner – für’s erste
Periscope und Konkurrent Meerkat haben sich eine Zeit lang einen Wettbewerb um die Vorherrschaft bei den Livestreams geliefert, aus dem Periscope wohl als Sieger hervorgegangen ist. Warum das so ist, haben wir hier schon vor einiger Zeit analysiert. Twitters Periscope dürfte, zumindest solange Facebook Mentions noch nicht für die breite Öffentlichkeit verfügbar ist, der Marktführer im Livestreaming-Segment bleiben.
Die App ist momentan in aller Munde, aber viele wissen noch immer nicht, wozu sie eigentlich gut sein soll. Ist sie bloß ein weiteres Mittel der Selbstdarstellung, das uns schnell auf die Nerven gehen wird? Wird sie ein Tool für Mode- und Beautyblogger, die noch direkter als über Instagram-Fotos und YouTube-Videos mit ihren Followern kommunizieren möchten? Ist sie für Blogger, die sich dabei filmen, wie sie einen Artikel schreiben (wie ich es während des Verfassens dieses Artikels teilweise gemacht habe)? Oder ist Periscope eine große Chance für Journalisten, ihre Inhalte ohne Mittelsmänner an die Leser zu bringen? Es ist das alles und noch viel mehr. Ich will mich auf heute auf die journalistische Anwendung der App begrenzen.
Gefühlte 99 Prozent Selbstdarstellung
Zuerst einmal fällt es dann aber vor allem schwer, zwischen Teenagern, die vor dem Zubettgehen noch ein bisschen ihr Gesicht in die Kamera halten, Spaziergängern, die sich und ihre Umgebung zeigen, und anderen, ich nenne sie mal casual streams, solche Liveübertragungen zu finden, die mir persönlich einen Mehrwert bieten. Periscope besteht zu gefühlt 99 Prozent aus Selbstdarstellung. Ich finde Jungs in einer Shisha-Bar, die bei neun Zuschauern jubeln: „Krass, wir werden berühmt!“ Da sitzt einer auf der Couch und streamt, was gerade so im Privatfernsehen läuft, ein Mann sitzt bei einem High-School-Football-Spiel und sagt, „this is live, this is broadcasting to the world“. Ich beobachte betrunkene Londoner, wie sie in einer Musical-Bar sitzen und es unglaublich lustig finden, aus der ganzen Welt beobachtet zu werden. Als ich ihnen erzähle, dass ich einen Artikel über Periscope schreiben werde und sie frage, was sie bisher von der App halten, antwortet ein Mann: „I love it. I love articles!“, und schiebt ein „Schland, the motherland“ hinterher.
Plötzlich bin ich in einem Auto mit drei gegelten Jungs und zwei aufgetakelten Blondinen. Der Stream hat den Titel „mit 2 Mädels“, die Insassen essen Fast Food, der Fahrer flüstert ein paar türkische Sätze in die Kamera, auf deren Inhalt sich wohl ein Kommentator bezieht, als er schreibt: „Schäm dich!“ In einem anderen Stream treten Burger zweier Ketten gegeneinander an, ein Mann und eine Frau reden über die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Fleischbrötchen. Das macht Lust auf Burger, ich habe Hunger, aber glücklicherweise ist das Bild so schlecht, dass mir nicht weiter das Wasser im Mund läuft. Hier hilft die schlechte Bildqualität, fast jedes andere Mal ist sie einfach nur nervig; doch dazu später mehr. Jetzt bin ich auf der Suche nach etwas mit Substanz, einem Funken Journalismus inmitten des selbstdarstellerischen Rauschens.
Bild mal wieder an vorderster Front
Das Axel-Springer-Vorzeigeprodukt Bild mag oftmals Kritik auf sich ziehen; wenn es um digitale Innovationen geht, ist das Blatt aber oftmals unter den Vorreitern, die Neuerungen ausprobieren und versuchen, diese in ihre Berichterstattung einzuarbeiten. So auch bei Periscope. Am 23. September hat Bild 24 Stunden lang bei Periscope gestreamt und ausprobiert, wie Periscope und Journalismus zusammen funktionieren. Einen Tag lang wurde ein 21 Punkte umfassendes Programm abgespult und dabei zeigte sich vor allem, was man vermeiden sollte. Das herauszufinden war sicherlich eine der Aufgaben, die dem Experiment zugedacht war. Ich habe es mir nicht angetan, ununterbrochen den Bild-Stream zu schauen, habe mir aber im Nachgang ein paar Punkte angeguckt. Was mir besonders aufgefallen ist, ist die Unvereinbarkeit eines strikten Programms mit der Art von Journalismus, für die Periscope wie gemacht ist und in der es seine Stärke entfaltet.
Die Themen, die journalistisch in der App am besten laufen, sind spontane Begebenheiten, bzw. solche, die zumindest spontan aussehen. Ich habe mir am Tag nach dem Bild-Stream den vorletzten Programmpunkt angeschaut, bei dem zwei Reporter mit dem frisch produzierten Produkt in einen Kiosk gegangen sind, um den ersten Käufer dort anzutreffen. Das Problem war nur, dass bis zur nächsten Station in der Schalte kein einziger Käufer aufgetaucht ist. Ich habe also zwei jungen Männern dabei zugeschaut, wie sie die Verkäuferin von der Arbeit abgehalten haben, während sie unbedarft durch den Kiosk geschlendert sind und nicht wussten, was sie machen sollten. Dabei entstand dann so Geistreiches wie, „Ich muss jetzt mal ein Interview machen“ oder „Verkauf doch mal ne Bild!“ , woraufhin einer der beiden Reporter der Verkäuferin die Frage stellte: „Wollen Sie eine Bild kaufen?“ Die Reporter wirkten dabei wie zwei betrunkene Studenten, die nach einer Clubnacht auf dem Heimweg sind, sich im Kiosk noch eine letzte Flasche Bier holen wollen, dort ein Smartphone in die Hand gedrückt bekommen haben mit der Anweisung: „Macht mal ’ne Sendung!“
Nur ein Kanal ist zu wenig
Als der Stream dann unverrichteter Dinge an die nächste Station weitergegeben wurde, war klar, dass Sendungen mit festen Zeiten nichts für Periscope sind, zumindest nicht, wenn zwei solcher Sendungen direkt aufeinander folgen. Periscope ist nunmal kein klassisches Fernsehen mit festen Sendezeiten. Verfolgt man hier einen klassischen TV-Ansatz, hält man an Grundsätzen sich verabschiedender Tage fest, in denen die Fernsehzeitung den Zeitpunkt der Unterhaltung festlegte. Als Experiment wie bei Bild finde ich diesen Fehler verzeihlich, wer mir aber in Zukunft ein am besten noch Tage vorher festgelegtes Periscope-Programm vorlegt, hat mich als Zuschauer verloren.
Wer bei Periscope streamt, muss spontan arbeiten können und Änderungen im Ablauf umgehend einarbeiten. Es könnte hilfreich sein, wenn eine Publikation mehrere Kanäle anbietet. Ist der eine Kanal gerade besetzt, kann noch immer einer der anderen aktiviert werden, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, worüber berichtet werden muss. Gegen den Bürger um die Ecke, der zwar vielleicht nicht so gut reden kann wie ein ausgebildeter Videojournalist, dafür aber von jetzt auf gleich seine Kamera auf das Geschehen richten und live senden kann, haben Nachrichtenmacher sonst keine Chance. Auf das Bild-Beispiel angewendet, hätten die beiden Reporter weiter gesendet, auf dem zweiten Kanal wäre die nächste Sendung angelaufen.
Aj+ macht vieles richtig
Ich meckere gerne und leidenschaftlich über Schlechtes, doch ich konnte bisher auch gute journalistische Inhalte auf Periscope finden, von denen ich viel Positives erzählen kann. Vor allem die Kollegen von Aj+ machen so manches richtig. Sie haben via Periscope aus Ungarn berichtet, haben sich unter Flüchtlinge gemischt, mit diesen Live-Interviews geführt und die Zuschauer unmittelbar teilhaben lassen. Aus Mekka hat nach dem tödlichen Unglück beim Haddsch eine Reporterin, die selber auf Pilgerreise war, berichtet. Sie ist durch die Straßen gegangen, in denen das Unglück geschah, hat andere Pilger gefragt, ob sie in Gefahr waren und wie sie die Situation empfinden. Ebenso ist in Mexiko eine Reporterin in der Demonstration mitgegangen, die an die 43 verschleppten Studenten erinnert hat. Und jedes einzelne Mal sind die Reporter direkt auf die Fragen der Zuschauer eingegangen, haben diese mitunter den Menschen auf der Straße gestellt.
Das ist es, was Journalismus bei Periscope sein muss: inmitten des Geschehens sind Reporter, nur bewaffnet mit einem Smartphone, die dafür ausgebildet sind, die richtigen Fragen zu stellen, auf ihr Umfeld angemessen zu reagieren. Reporter, die den Zuschauer, der eine drängende Frage hat, beachten und sofort eine Antwort auf seine Frage suchen.
Versteckte Talente werden offenbart
Leider bisher nur gehört habe ich von stinknormalen Bürgern, die bei einer Katastrophe oder einem spontanen Ereignis gerade in der Nähe waren, ihre Kamera draufgehalten und gestreamt haben. In solchen Situationen scheinen sich wohl wahre Moderationstalente herauszufiltern, deren Berichterstattung alle fünf Sinne anspricht, indem genau über jeden Eindruck gesprochen wird. Doch diese Spezies von Periscopern scheint eine seltene zu sein.
Zwar ist sie Journalistin und keine Bürgerreporterin, positiv hervorzuheben im Periscope-Universum ist Susanne Dickel, Welt-Videoexpertin, trotzdem. Ich habe zwar nur einen einzigen Stream von ihr gesehen, bei dem sie einen E-Gamer interviewt hat, dabei hat sie aber so souverän das Interview geführt, ist vom Englischen ins Deutsche gewechselt, hat die richtigen Fragen gestellt und solche der Zuschauer direkt an ihren Interviewpartner weitergeleitet, dass in der Hinsicht mit Sicherheit noch einiges Spannendes zu erwarten ist. Generell gilt: Jeder kann auf Periscope berichten, nicht jeder sollte es.
Große Zukunft – arme Regionen bleiben aber zurück
Neben Talent gibt es wenig, was man braucht, etwas entscheidendes aber ist eine stabile und schnelle Internetverbindung. Den Aj+-Stream aus Mekka musste ich aufgrund des langsamen Internets der Reporterin mehrmals neu starten und erkennen konnte man leider kaum etwas von dem Gefilmten. Wäre weltweit flächendeckend schnelles Internet vorhanden, Periscope wäre überall und jeder Erdfleck visuell zugänglich. So bleibt zu befürchten, dass Periscope ein Phänomen der hochentwickelten Standorte weltweit bleibt. Regionen, die schlecht angebunden sind und in denen Armut herrscht, werden auf Periscope kaum vertreten sein. Insofern ist die App momentan leider meist noch ein Ausdrucksmittel ausschließlich wohlhabender Regionen. Bis das mobile Internet auch in ärmeren Gebieten so schnell sein wird, dass es für Periscope reicht, werden wohl noch Jahre vergehen. Bis dahin bleiben die Stimmen vieler Menschen leider ungehört.
Noch gibt es nicht viel lobens- und nennenswertes an journalistischen Beiträgen auf Periscope, ein paar gute Ansätze sind da und Experimente wie das von Bild helfen, die richtige Anwendung der App zu entwickeln. Ich gehe jede Wette ein, dass in Zukunft qualitativ hochwertige Berichterstattung per Livestreaming stattfinden wird, bis jetzt sind es bloße journalistische Gehversuche, die noch ausgereift werden müssen. Periscope im Besonderen und Livestreaming im Allgemeinen haben eine große journalistische Zukunft. Jetzt ist die Zeit, in der bestimmt wird, wie diese Zukunft aussieht und wer an ihr teilhaben wird. Ich bin gespannt.
Kennst du gute journalistische Angebote auf Periscope? Was stört dich am meisten an der bisherigen Berichterstattung, welche Tipps kannst du geben? Bring dich ein, schreibe in den Kommentaren oder auf Twitter (@hendrikgee) unter #Mediendschungel deine Anmerkungen und Fragen. Hinweis: Ich werde am Donnerstag, 1. Oktober, ab 10 Uhr live vom Scoopcamp den Vortrag von Blendle-Gründer Marten Blankesteijn auf Periscope übertragen. Dort findet ihr mich ebenfalls unter @hendrikgee.
Bei Periscope ist es ähnlich wie bei Bürgerreportern. Die wenigsten können schreiben – das zeigt ein kurzer Besuch auf Angeboten wie My Heimat und mein-suedhessen.de. Und Filmen ist ein anspruchsvolles Handwerk: Dinge wie Achssprung, Wechsel zwischen bewegtem und ruhigem Bild etc. sollte man gelernt haben. Die meisten Netzvideos sind nicht ansehbar: Aufzieher, hastige Schwenks und Kamerafahrten, gräßliche Schnitte – selbst bei großen Zeitungen regiert der „Bürger-Film“, weil es niemand kann. Ich befürchte, mit dem tollen Mittel Periscope wird es nicht besser. Erst recht werden wir keine Geschichten im Film sehen können. Nur werden künftig die Bürger-Filmer im Zentrum des Geschehens sein, während die Profi-Kollegen weiter vom sicheren Hotel bei den Schalten die aus der Heimatredaktion gemailten Agenturen vorlesen.