Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: Die Bilder-App Fyuse.
Im Laufe unseres Lebens lernen wir ununterbrochen neue Dinge kennen. Menschen, Geräte, Ideen, Denkweisen, Modetrends, Musikstücke, Bücher, Freunde, Feinde, Spiele, und so weiter und so fort. Die Liste könnte ewig weitergeführt werden. Das meiste Neue bekommt von uns kaum Beachtung geschenkt, anders ist ein normales Leben gar nicht möglich. Zum Atmen zu abgelenkt wären wir, wenn alles Neue unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Wir sehen es, registrieren die Existenz und ziehen mit den Gedanken weiter. Manches ist anfangs interessant, begleitet uns ein Stück, bleibt eine Weile in Benutzung, verliert irgendwann den Reiz und wird abgelegt.
Und dann gibt es solche Erscheinungen, die einen schon beim ersten Anblick vom Hocker hauen, die inspirieren, die Möglichkeiten aufzeigen, die schlichtweg vieles richtig machen und von denen man glaubt, sie könnten einen bleibenden Einfluss darauf haben, wie wir die Welt sehen. Ich möchte in dieser Ausgabe von Mediendschungel über eine App sprechen, die mir letzteres Gefühl gibt. Gut, ich gebe zu: sie wird keinen Einfluss darauf haben, wie die Welt per se wahrgenommen wird und wir sollten technische Neuerungen auch nicht größer machen als sie sind.
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Das wichtigste im Journalismus sind Inhalte, Darstellungsformen sind nur Mittel zum Zweck. Aber als ich vor wenigen Wochen die App das erste Mal sah, war ich von den Socken. In ihr sehe ich ein gewaltiges Potenzial, Nachrichten schöner, interessanter, interaktiver zu machen. Sie macht etwas, was ich vorher nicht ansatzweise gesehen habe. Das sind große Worte, die ich hier schwinge und nun rechtfertigen muss. Der Umstand, dass das Potenzial für Nachrichten bislang nicht im Geringsten genutzt wird und ich daher das Gefühl habe, etwas übersehen zu haben, macht die Rechtfertigung nicht unbedingt leichter. Aber ich werde es versuchen. Ich spreche von Fyuse, der 180-Grad-Bilder-App* von Fyusion.
Viel abgeguckt bei Instagram und Twitter
Fyuse ist zu allererst ein Tool, mit dem ich eine bestimmte Art von Bildern produzieren kann. Gleichzeitig ist es aber auch ein neues soziales Netzwerk, am ehesten zu vergleichen mit Instagram. Grundidee: ein soziales Netzwerk für Bilder. Bei Instagram sind im Laufe der Zeit noch Videos hinzugekommen, umwälzend verändert wurde aber nichts. Fyuse orientiert sich stark an Instagram. Das fällt auf, sobald man die Apps öffnet und nebeneinander hält. Die Menüleiste ist beinahe identisch. Ich kann in beiden Programmen Posts mit einem Herzen versehen und kommentieren, bei Instagram leite ich Bilder per Klick auf den Pfeil weiter, beim entsprechenden Fyuse-Icon gebe ich dem Post ein Echo, vergleichbar mit dem Retweet bei Twitter.
Von dem Kurznachrichtendienst hat sich Fyuse, die App gibt es für iOS und Android (noch Beta), noch ein weiteres „Feature“ abgeschaut: die Begrenzung der Beschreibung auf 140 Zeichen. Hat das Limit bei Twitter durchaus seinen Sinn, wirkt es bei Fyuse schrecklich einengend und willkürlich. Man bekommt den Eindruck, die Entwickler hätten die Zeichenbegrenzung implementiert, weil es bei Twitter ja auch klappt. Die Voraussetzungen sind aber andere. Auf Twitter möchte ich keine Geschichten erzählen, sondern nur auf sie hinweisen. Bei Fyuse hingegen würde ich auch gerne erzählen. 140 Zeichen reichen mir da nicht. Immerhin kann ich im Gegensatz zu Instagram direkt auf Links in der Beschreibung klicken und werde, ähnlich wie bei Twitter, innerhalb der Fyuse-App auf die entsprechende Seite geleitet.
Mit Fyuse durch das Bild bewegen
Layout abgeschaut, Bedienung ähnlich, 140-Zeichen-Limit. Man mag sich fragen, was so besonders sein soll an Fyuse. Ist doch bloß ein schlechter Mischmasch aus bekannten Netzwerken oder? Nein. Fyuse mag bislang ein rudimentäres und austauschbares Netzwerk sein, das eigentliche Kerngeschäft der App liegt auch vielmehr in der Art von Bildern, die sie produzieren kann. Fyuse erstellt…ja, wie soll man sie nennen…Fyuses. Das sind Bilderreihen, die einem das Gefühl geben, man bewege sich durch das Bild. Ein fantastisches Raumgefühl wird so beim Betrachter erzeugt. Man steuert entweder durch Bewegungen mit dem Smartphone oder orientiert sich mit der Maus durch das Bild. Für ein so innovatives Format ist es denkbar schwer, überhaupt eine geeignete Beschreibung zu finden. Fyuses sagen mehr als tausend Worte:
Alle sind begeistert, kaum einer nutzt es
Das Geheimnis der Fyuses ist im Grunde gar keins: als jemand, der von Softwaretechnik nicht viel Ahnung hat, nenne ich es ganz plump einfach mal Stop-Motion-Technik. Die App nimmt in sehr kurzen Abständen Bilder auf, fügt diese zusammen und durch Kippen des Smartphones erhalten wir beim fertigen Produkt das Gefühl eines Bewegtbildes, das nur wir kontrollieren. Warum das bislang noch nicht gemacht wurde, ist mir ein Rätsel.
Bin ich auf Fyuse, bleibe ich dort schnell an den hunderten verfügbaren Posts hängen. Fyuse macht einfach Spaß. Das große Plus gegenüber anderen Formaten ist die Interaktivität. Selber zu bestimmen, aus welchem Winkel wir auf das Objekt schauen, das ist neu. Den Effekt, den Fyuse auf mich hatte, als ich es das erste Mal gesehen habe, habe ich bereits weiter oben beschrieben. Das Besondere ist, dass er noch immer nicht nachgelassen hat. Ich weiß, dass Fyuse etwas besonderes sein kann, bislang aber noch sehr stiefmütterlich behandelt wird. Das liegt weder daran, dass es neu ist – es gibt in der App mehrere Monate alte Fyuses und die ersten Artikel zu Fyuse tauchen schon Mitte 2014 auf – noch daran, dass die Begeisterung fehlt. Sucht man nach Reaktionen auf die App, sind sie fast ausschließlich sehr positiv. Warum ist die App dann doch noch so unbekannt bei den Meisten? Vermutlich liegt es an zwei Aspekten, warum der Erfolg bislang ausbleibt. Erstens ist das Netzwerk noch zu rudimentär, nicht ausgereift und unoriginell, und zweitens bleibt die Nutzung bislang noch aus.
Food- und Modeblogging, kein Journalismus
Ich rede gar nicht davon, dass Fyuse an sich nicht genutzt wird. Ganz im Gegenteil, für manche Bereiche wurde das Potenzial erkannt, auch wenn es noch nicht voll ausgeschöpft wird. Gerade im Mode- und Beautybereich bietet Fyuse eine spannende neue Darstellungsmöglichkeit. Kleider, die sonst mit Fotos präsentiert wurden, sind jetzt in einer Rundumansicht zu betrachten, getragen von echten Menschen.
Auch Foodblogging kann mit Fyuse in ganz neue Dimensionen vorstoßen: Mehrere Bilder des gleichen Gerichts? In was für Zeiten leben wir denn? Instagram-Foodblogging ist sowas von 2014. Im Jahr 2015 haben wir Fyuse und betrachten unser Essen von allen Seiten. Bevor ich mich in Gebieten verliere, von denen ich eigentlich überhaupt keine Ahnung habe, komme ich zurück zum wichtigsten Thema, dem Gebrauch von Fyuse im Journalismus, der bisher viel zu selten und wenn, dann bloß oberflächlich stattgefunden hat.
Fyuse und Journalismus
Generell gilt für den Einsatz im Journalismus das gleiche, wie für Fyuses in Beiträgen zu Essen oder Mode. Die Anschaulichkeit des Objektes wird gewaltig erhöht. Kann man zwischen einem einzelnen Standbild und verschiedenen Perspektiven auf einmal wählen, würde ich mich in den meisten Fällen für letztere Option entscheiden. Mit einem Fyuse kann je nach Situation und Einsatzort mehr erreicht werden als mit einem Foto. Fotos halten einen Moment in der Zeit fest. Kein vor oder zurück. Fyuse schafft es, diesen Moment auszudehnen, mehr Einblick zu gewähren, nicht bloß visuell, sondern auf einer tieferliegenden Ebene. Erstellt man das Fyuse eines Menschen, erkennt man winzige Änderungen in der Mimik. Einzelne Nuancen sind plötzlich sichtbar. Auch Videos sind nicht immer die bessere Alternative. Sie laufen ab, man kann auf Play und Pause drücken. Du kannst im Normalfall aber nicht durch das Video scrollen, einzelne Bewegungen fallen nicht so stark auf.
Nehmen wir als Beispiel für den Einsatz einmal einen Artikel, den ich für mein Blog geschrieben habe. Darum geht es um eine Unterkunft für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge. Will ich beispielhaft eins der Zimmer zeigen, in denen sie untergebracht sind, hätte ich bislang stets versucht, möglichst viel Inhalt in das Bild zu bekommen. Womöglich hätte ich mehrere unterschiedliche Perspektiven gewählt, vielleicht wäre auch bloß ein Teil zu sehen gewesen. Auf jeden Fall hätte ich nicht das erreichen können, was jetzt mit einem Fyuse geht.
Unzählige Möglichkeiten für Nachrichten
Ganz allgemein bieten Fyuses für den Journalismus vielfältige Möglichkeiten. Schreibe ich ein Portrait, so kann ich die portraitierte Person mit einem 180-Grad-Fyuse* dem Leser nicht nur durch meine Worte näher bringen, sondern ein ganz neues Gefühl der bildlichen Nähe entstehen lassen. Findet sich noch eine Methode, Nachrichtenfyuses im Bild zu beschriften und je nach Perspektive nur die gerade passende Beschriftung anzeigen zu lassen, können unter Umständen manche Infografiken mit Bildern auf grundsätzlich neue Weise verschmelzen. Den Gedankenspielen sind hier kaum Grenzen gesetzt. Was sich festhalten lässt, ist die erhöhte Attraktivität vieler Nachrichtenbeiträge.
Selbstredend ist ein Fyuse kein Allheilmittel. Es gibt Umstände, in denen benötige ich einfach ein Video, Artikel, in denen ein einzelnes Foto die ideale Wahl ist, und Reportagen, die nichts außer Worte brauchen um zu wirken. Generell sollte für einen Beitrag stets das Medium gewählt werden, dass die Information auf die schlüssigste Weise transportiert. Die Kombination von Text, Foto, Video und, ja, auch Fyuse ist das A und O. Aber allein die Tatsache, dass ich eine weitere Möglichkeit erhalten habe, journalistische Inhalte zu bereichern, ist eine grandiose Meldung.
Vergleich Bild vs. Fyuse (unten)
Wohin geht der Weg?
Bis Fyuse dauerhaft Einzug in den Journalismus findet, ist es noch ein langer Weg, doch ich finde, dass er beschritten werden muss. Dabei braucht es Pionierarbeit, um Nachahmern aufzuzeigen, was alles möglich ist.
Ich glaube, dass die Fyuse-Macher selber noch nicht so richtig wissen, wohin es mit mit der eigenen Technik gehen soll. Will es ein soziales Netzwerk sein, in dem Fyuses geteilt werden? Dann müssen die Weichen gestellt werden, damit es nicht bloß die Kopie vorhandener Netzwerke bleibt. Soll der Fokus auf der Technik liegen? Dann sollte meines Erachtens die Netzwerkstruktur drastisch zurückgefahren werden, damit nicht vom zentralen Gedanken abgelenkt wird.
Zudem muss dringend die Einbettbarkeit in andere Formate verbessert werden. Bislang muss ich den Link zum Fyuse mit mir selbst teilen, über diesen Link bekomme ich dann den passenden HTML-Code, den ich auf meiner Seite einfügen muss. Jemand, den die Fyuse-Technik nicht ganz so aus den Latschen haut wie mich, wird vermutlich nicht häufig diese nervige Prozedur auf sich nehmen. Folglich verbreitet sich Fyuse langsamer.
Lust und Hoffnung auf mehr
Auch ich muss mich in der Erstellung der Fyuses noch üben, zu neu ist das Medium. Doch Neues benötigt immer Eingewöhnung. Das perfekte Foto war nicht bei den ersten geschossenen dabei, das ideale Video brauchte ebenso Übung. Doch Fyuse bietet die Möglichkeit, sich auszuprobieren, die Technik auf alles anzuwenden, was vor die Smartphonelinse läuft. Ist man um das Objekt gelaufen und hat den Finger vom Auslöser genommen, macht schon das Warten auf das fertige Fyuse Lust darauf, das Endprodukt zu sehen.
Lasst uns die Technik im Journalismus einsetzen. Bilder kann jeder, Fyuses kann nur Fyuse. Bislang jedenfalls. Es ist nicht auszuschließen, dass beispielsweise Instagram die Technik unter anderem Namen in der Zukunft kopiert und in sein Netzwerk einbaut. Ich bin gespannt, ob, und wenn ja, wie Journalisten das neue Medium in ihrer Arbeit einsetzen, welche Fähigkeiten die Entwickler der App noch geben werden oder ob auch in einem halben Jahr – genau wie heute – kaum jemand von Fyuse spricht. Ich persönlich fände es fantastisch, wenn ich auch in großen Publikationen demnächst ein Fyuse sehe, bei dem ich selber bestimmen kann, welcher Bildausschnitt gerade angezeigt wird und ich bin mir sicher, dass ich nicht der einzige bin.
Welche Möglichkeiten des Fyuse-Einsatzes siehst du? Kennst du andere innovative Bilder-Apps oder möchtest ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreib mir hier in den Kommentaren oder auf Twitter (@hendrikgee) mit #Mediendschungel.
* Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Fyuse könne 360-Grad-Bilder erstellen. Natürlich ist mit einem einzelnen Fyuse lediglich eine 180-Grad-Sicht zu erreichen. Der Fehler wurde berichtigt.
Ich kann die Begeisterung des Autors überhaupt nicht nachvollziehen. Diese Dinger sind wie animierte GIFs, nur mit verbessertes Steuerung. Die meisten (z.B. auch der Vergleich unten) sehen aus wie Streetview-Ansichten.
Ich sehe das anders. GIFs werden niemals so vielseitig und interaktiv sein. Zudem ist das bei Fyuse gegebene Raumgefühl mit GIFs nicht zu erreichen. Die von Ihnen als „‚Streetview‘-Ansichten“ bezeichneten Fyuses stellen nur eine Möglichkeit der Anwendung dar. Die revolutionärere Anwendung – die Rundumansicht eines Objektes – gibt es so bisher nicht und ist für Journalisten, Blogger oder jeden, der frisch wirkende Bilder von sich oder anderen machen möchte, eine fantastische neue Form der Darstellung.
Ich kann Tatori schon verstehen – mir kam der Gedanke auch schon häufig. Viele Fyuses sind einfach nix, weil eben eine Menge User nicht verstehen, dass es keine Foto-App ist. Ein statisches Objekt im Fyuse macht schon einen großen Unterschied zu Fotos und wirkt auch erst auf diese Weise richtig. Morgan Berg zB macht echt gute Fyuses, die mit einem GIF nicht zu vergleichen sind. Und dass Fyuse das Foodblogging verändern kann, ist durchaus denkbar.
Schönen Gruß,
Tina
Wieso soll diese Technik den Journalismus verbessern? d. h. was versteht der Schreiber unter Journalismus.
Geht es um die Flüchtlinge an Ungarns Grenzen interessiert mich der Hintergrund: Woher kommen sie? Sind die Syrer vor Assad oder der IS oder einer anderen Miliz geflohen? Warum werden gerade jetzt die Flüchtlinge die teilweise über ein Jahr im Süden der Türkei in Lagern lebten durch Nationalisten vertrieben. usw. usf. Dies erwarte ich von qualitativ guten Journalismus und dies fehlt heute leider weitgehen! Ein noch so toll gemachtes Fyuse von einem Kind, das die Hände durch den Zaun streckt, hat nichst mit guten Journalismus zu tun. Diese Technik wird wohl den Journalisten noch stärker von seiner eigentlichen Aufgabe ablenken. imho.
Eine Definition von „Journalismus“ wäre hier, denke ich, fehl am Platz. Ich bin mir auch sicher, dass ein Fyuse nicht per se Journalismus verbessert. Wenn es aber zum Inhalt beiträgt, Anschaulichkeit herstellt und – an passender Stelle – ein Foto ersetzt und dadurch den Informationsgehalt vergrößert und so hilft, einen Beitrag interessanter zu machen und dem Leser Aspekte der Geschichte näher zu bringen, dann finde ich, dass ein Fyuse eine große journalistische Hilfe sein kann. Genauso könnte man fragen, wie ein Foto oder ein Video Journalismus verbessert.
Über Politik zu diskutieren braucht man an dieser Stelle auch nicht. Selbstverständlich kommt es im Journalismus zuallererst auf Inhalte an, nichts anderes habe ich behauptet. Wenn die Inhalte aber durch attraktive Darstellungsformen begleitet werden, warum die Möglichkeit nicht nutzen? Kann Journalismus durch verbesserte Darstellungsformen ebenfalls verbessert werden? Solange die Kernaufgabe des Journalisten nicht auf der Strecke bleibt, muss die Antwort lauten: ja!
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