Es gibt Trends, die beim geneigten Tech-Freund sofort für erhöhten Speichelfluss sorgen. Virtual-Reality-Headsets gehören dazu. Da auf dem Hype-Zug ohnehin kein Platz mehr ist, werfen wir in dieser Serie einen kritischen Blick aus der Distanz auf die Zukunft der virtuellen Realität. Jens Quentin orakelt, dass diese Technologie ausgerechnet in dem Bereich, in dem sie ihre Wurzeln hat, zum Scheitern verdammt ist. Teil IV: Scheitern mit Anlauf. // von Jens Quentin
Eines vorweg: Ich möchte hier keine Technik-Daten wiederkäuen oder Produkt-Informationen abschreiben, die inzwischen schon jeder Interessierte kennt. Hier geht es nicht um die Bildwiederholungsrate, das OLED-Display oder die Pixel-Anzahl. Das alles wurde woanders schon hinlänglich thematisiert und bewertet. In dieser Serie geht es vielmehr um eine grundsätzliche Einordnung der VR-Technologie im Jahre 2015 und um seine zukünftige Bedeutung für unterschiedliche Industrien und Märkte. In Teil 4 zeige ich auf, warum Viruelle Realität im Gaming-Bereich eine Modeerscheinung bleibt, die keine nachhaltige Rolle spielen wird.
Blick zurück in die Zukunft
Ich habe gerade nicht unerhebliche Zeit damit zugebracht, auf Youtube die „10 besten Hai-Attacken in Filmen“ anzuschauen. Jetzt fragt sich der geneigte Leser eventuell zurecht: Warum? Die Recherche für einen Artikel führt manchmal auf sehr abstruse Pfade, die auf den ersten Blick nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben. Dieser Fall ist jedoch besonders. Er hat nämlich auch bei näherem Hinsehen rein gar nicht mit dem Thema Virtuelle Realität zu tun. Mit sehr viel Anstrengung könnte ich nun versuchen, einen Bogen zu spannen. Zum Beispiel so: „Wartet mal ab, bis die ersten VR-Spiele mit Haien erscheinen! Dann kommt euch Der weiße Hai vor wie eine verständliche Version der Teletubbies!“ Wirkt ziemlich konstruiert, oder? Ist es auch. Daher wieder zurück zum Thema.
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In den ersten drei Teilen habe ich schon den einen oder anderen Blick in die Vergangenheit geworfen, um aktuelle oder zukünftige Entwicklungen besser skizzieren zu können. In Teil 4 ist das nicht anders. Jetzt könnte man sagen: „Mensch, Quentin! Wie langweilig, diese ständigen Flashbacks.“ Das liegt schlicht und einfach daran, dass sich bestimmte Mechanismen und Trends mit schöner Regelmäßigkeit wiederholen. Ähnlich wie bei einem schaurig-schönen Mode-Trend sind auch im Bereich Technologie bestimmte Muster nicht totzukriegen. So gab es in der Vergangenheit technische Entwicklungen, die genau wie das aktuelle Hype-Thema Virtuelle Realität zum Heilsbringer und Retter einer Industrie ausgerufen wurden, um später sang- und klanglos in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ich möchte das an der bereits erwähnten Bewegungssteuerung aufzeigen, genauer gesagt an dem Projekt Kinect.
Vom Technik-Wunder zum Flop
Im Mai 2013 werde ich mit zahlreichen Journalisten-Kollegen nach Seattle eingeladen, um der Präsentation der neuen Microsoft-Konsole Xbox One beizuwohnen. Nach der weltweit übertragenen Show auf der Bühne wird die Presse in kleinen Gruppen über das Microsoft-Firmengelände in Redmond gelotst, um die wichtigsten Funktionen der neuen Hardware im Detail kennenzulernen. In einem Raum wird das neue Kinect-System vorgestellt. Seit Ende 2010 als Peripherie für die Vorgänger-Konsole Xbox 360 erhältlich, wird Kinect 2.0 nun als fester Bestandteil mit der neuen Xbox One ausgeliefert. Um die Power der neuen Bewegungssteuerungs-Hardware zu demonstrieren, darf die Presse-Gruppe vor der verbesserten Kamera herumhampeln, während ein Microsoft-Representant eindrucksvolle technische Daten nennt. Sogar Details wie die Falten der Kleidung oder die Mimik des Spielers erkennt das neue Kinect-System. Auch unterschiedliche Lichtquellen, die das alte Kinect vor enorme Probleme stellten, sind nun ein Klacks. Toll!
Vier Mikros sorgen dafür, dass das System auch bei Nebengeräuschen die gesprochenen Befehle des Spielers herausfiltert und erkennt. In einem schalldichten Raum simulieren Roboter Stimmen verschiedenster Sprachen und Aussprachen, um die Leistung der Mikrofone zu optimieren. An dem enormen Aufwand wird deutlich, wie wichtig Microsoft Kinect ist. Wie wichtig Kinect für das Gaming ist. Controller waren gestern. Die Steuerung mit Gesten und Sprache ist die Zukunft. Das Medium Spiel soll durch Kinect in eine neue Dimension gehievt werden. Jedenfalls nach den Plänen Microsofts im Jahr 2013. Was folgt, ist ein Shitstorm, der Microsoft mit voller Wucht trifft und alle Pläne wegfegt. Die moderne Kamera und die Mikros machen das neue Kinect in den Augen der Datenschützer zum ultimativen Überwachungsgerät im Wohnzimmer. Dazu kommt die Tatsache, dass es auch nach Monaten kein Spiel gibt, das dank Kinect eine neue Erfahrung vermittelt. Die Pläne von Microsoft, das Medium Spiel anhand einer neuen Technologie zu revolutionieren, lösen sich in Schall und Rauch auf. Bereits ein Jahr später ist aus dem Heilsbringer überflüssiger, überteuerter Hardware-Schnick-Schnack geworden, den kein Mensch/Spieler braucht. Die Xbox One wird fortan ohne Kinect ausgeliefert. Spiele werden ohne Kinect-Unterstützung entwickelt. Inzwischen ist Bewegungssteuerung im Gaming toter als Disco. Die Wahrscheinlichkeit, dass VR dasselbe Schicksal ereilt, ist hoch.
Grandiose Demo – enttäuschendes Spiel
Es gibt ohne Zweifel beeindruckende Demo-Versionen, die deutlich machen, was Virtuelle Realität im Spiel-Segment leisten kann. Auf Messen oder Events wird der User in fantastische Welten voller einmaliger Ereignisse entführt. Dinosaurier, die realistisch wie nie zum Greifen nahe sind. Grandiose Unterwasserwelten. Atemberaubende Ausflüge ins Weltall. All dies ist technisch hervorragend umgesetzt und exzellent inszeniert. Genau wie die erschaffenen Welten ist aber auch der Gedanke, dass VR-Spiele später einmal so aussehen und sich so anfühlen, eine Illusion.
Die Wirklichkeit ist viel trister. An einer 15min-Demo werkeln Entwickler oft mehrere Monate, bis jedes Detail perfekt ausgearbeitet ist. Es wird extrem viel Zeit und Manpower in diese Demos investiert. Macht auch Sinn, schließlich ist diese Demo das, was Besucher als Eindruck mit von einer Messe oder einem Event mitnehmen. In der harten Realität der Spiele-Entwicklung ist Zeit und Manpower Luxus, die sich fast kein Studio mehr leisten kann. Die Deadlines sind extrem hart, schließich muss Spiel XY zum Weihnachtsgeschäft in Handel sein. Da bleibt keine Zeit, kein Geld und kein Freiraum, um eine einmalige VR-Erfahrung zu schaffen. Das wird zwar in der Produktbeschreibung stehen. Im Spiel wird der Käufer danach vergeblich suchen.
Der Fluch des sicheren Erfolgs
Eines der kuriosen Gesetze von kreativen Bereichen wie der Film- oder Spiele-Industrie lautet: „Wir brauchen etwas vollkommen Neues, und wir brauchen etwas erfolgreiches!“ Das mit dem kommerziellen Erfolg ist bei vollkommen neuen Konzepten aber so eine Sache. Eine Sache mit hohem Risiko. Was machen Verantwortliche in einer solchen Situation? Sie setzen auf Bewährtes. Bewährte Spiel-Konzepte mit kalkulierbaren schwarzen Zahlen. Die Buchhaltung frohlockt, die Kreativ-Abteilung wendet sich mit Grausen ab. Aus Kreativität wird stumpfe Fließbandarbeit.
Das wird auch bei VR-Spielen die Realität. Statt in neuen Dimensionen zu denken, wird in alte Schubladen gegriffen. Bekannte Marken werden herausgeholt, der treue Gamer mit einem weiteren Teil „beglückt“. Dieses Mal sogar mit einzigartigem VR-Support. „Erlebe deinen Lieblings-Spielcharakter in einer fantastischen neuen Welt!“ – Alles Quatsch. Am Ende wird ein halbgarer VR-Modus inplementiert, der unter Zeit- und Kostendruck auf den letzten Drücker zusammenprogrammiert wurde. Was als neue Erfahrung verkauft wird, ist ein lieblos an ein fertiges Spiel angeflanschter Teil, der die neue Technologie nicht mal ansatzweise ausreizt. Willkommen in der virtuellen Realität.
Mir wird schlecht!
Im Bereich Virtuelle Realität liegt eine Besonderheit darin, dass dem Spieler nicht nur aufgrund mieser Games-Konzepte oder liebloser VR-Implementierung übel wird. Egal ob sich der Spieler selbst bewegen muss/kann wie beim HTC Vive oder ob er im Spiel auf virtuellen Schienen automatisch von A nach B transportiert wird: es gibt eine Sache, die die Entwickler bislang nicht zu 100% in den Griff bekommen haben: das Problem auftretender Motion Sickness. Bei meinem ersten VR-Erlebnis mit dem Oculus-Rift-Prototyp im Sommer 2012 habe ich dieses Problem sehr intensiv am eigenen Leib erfahren. Dabei hatte ich vorher nie Probleme mit diesem Phänomen, das bis dato nur sehr vereinzelt bei Ego-Shootern auftrat. Lag es damals an der noch bescheidenen Bildwiederholungsrate oder der Tatsache, dass die Hardware noch nicht für Brillenträger optimiert war? Keine Ahnung. Jedesfalls wurde mir schlecht, richtig schlecht. Und das ist bei einem Erlebnis, das Spaß bringen sollen, eher doof.
Nun werden Fanboys entgegnen: Das war 2012, in den Anfängen der VR-Arä. Inzwischen ist die Technik viel weiter. VR-Brillen sind mit entsprechenden Rahmen und verbesserten Linsen optimal auf Vieraugen abgestimmt, außerdem haben Entwickler die Bildwiederholungsrate ordentlich nach oben geschraubt. Alles gut nun? Nein. Selbst bei den neusten Demos, die auf der letzten gamescom im August 2015 präsentiert wurden, trat das Problem Motion Sickness auf. Hatte ich schon erwähnt, wie lange Entwickler mit höchster Sorgfalt an diesen Demos feilen, um dem Benutzer ein möglichst perfektes Erlebnis zu bieten? Habe ich. Und wenn selbst bei diesen kurzen Demos Motion Sickness auftritt, wie wird es denn wohl später bei einem Spiel sein? Solange es eine Latenz zwischen Aktion des Spieler und VR-Reaktion gibt, welche die Täuschung von Auge und Gehirn aufdeckt und zu Übelkeit führt, hat Virtuelle Realität ein echtes Problem – Millisekunden hin oder her. Eine Bildwiederholungsrate von 75 Bildern pro Sekunde lindert das Problem zwar, es beseitigt es aber nicht. Zudem stellt die Notwendigkeit eines solchen Bildwiederholungsrate-Mindestwerts auch höhere Hürden bei der Entwicklung auf. Es muss mehr Zeit investiert werden, die verbaute Technik wird teurer, die technische Umsetzung anspruchsvoller. Keine guten Voraussetzungen für ein Produkt für Spieler.
Zu kompliziert – zu teuer
Der Mensch ist faul. Sowohl in körperlicher Hinsicht (deswegen ist das Konzept der Bewegungssteuerung gescheitert) als auch im Denken. Alles muss für den Homo sapiens möglichst simpel sein. Zumindest dann, wenn er Spaß haben will. Ich bin das beste Beispiel: Wenn ich zu meiner Unterhaltung eine technisches Produkt nutze, muss das so einfach, benutzerfreundlich und komfortabel wie möglich sein. Ich will in meiner Freizeit nicht arbeiten. Egal ob App, Spiel oder Hardware. Ist etwas zu kompliziert, bin ich weg. Als Käufer. Als Nutzer. Als Fan. Als Botschafter. Der GAU für ein Produkt und dessen Hersteller. Virtuelle Realität ist im Jahr 2015 kompliziert. Es gibt zu viele Standards. Es gibt zu viel Verwirrung.
Beispiel? Es geht schon beim Namen los. Project Morpheus heisst seit kurzem PlayStation VR. Zum einen smart von Sony, weil „PlayStation“ als weltweit bekannte Marke für Home Entertainment etabliert ist. Andererseits bindet Sony durch den Namen an seine VR-Technologie an den Home-Entertainment-Markt. Den Markt, auf dem Virtuelle Realität 2017 keine Rolle mehr spielt. Um PlayStation VR nutzen zu können, benötigt der interessierte Käufer was? Eine PlayStation 4! Wenn er die sowieso schon besitzt, ist es gut. Falls nicht? Wird er neben dem Geld für die VR-Brille auch noch Geld für eine PlayStation 4 ausgeben? Ja, wenn es einen Systemseller gibt. Ein Spiel, das er haben muss, weil es so unglaublich gut, so innovativ und so einmalig ist. Gibt es ein solches Spiel? Hört ihr auch das Zirpen der Grillen?
Moment! Es gibt ja noch Oculus Rift und die anderen VR-Projekte, die nur einen PC benötigen. PC hat ja jeder! Falsch. Einen PC, wie ihn die technische anspruchsvollen VR-Brillen benötigen, hat nicht jeder. Einen solchen PC haben nur Hardcore-Zocker, die alle paar Monate bereit sind, mehrer hundert Euro in neue Hardware-Komponenten zu investieren. Das ist ein Nischenmarkt. Um für Hardware-Hersteller und Spiele-Entwickler zukünftig attraktiv zu sein, braucht Virtuelle Realität aber den Massenmarkt. Die Projekte, die in diesem schwierigen Segment noch am besten aufgestellt sind: Google Cardboard und Zeiss VR One. Sie setzen auf Smartphones als Basis-Technologie ihrer VR-Konzepte. Das macht das Ganze preislich attraktiv und zukunftssicher. Die in Smartphones verbaute Technik wird immer leistungsfähiger, die Verbreitung ist hoch. Zudem hat sich das Smartphone als ernstzunehmende Spiel-Plattform im Jahr 2015 etabliert. Wann Smartphones allerdings so leistungsstark sind, das sie eine echte VR-Erfahrung liefern können, steht in den Sternen. Ein komplizierter Markt. Zu kompliziert.
Nische statt Masse
So sehr ich mir als Gamer und Technik-Fan wünsche, dass wir in naher Zukunft alle total tolle Spiele auf unserer VR-Brille erleben, so sicher bin ich, dass dies eine Illusion bleibt. Es gibt zu viele Hürden. Zu viele Unbekannte. Zu viele Limitierungen. Zu viele Hindernisse, die es für Hersteller und Entwickler auch über den aktuellen Hype hinweg attraktiv machen, Ressourcen wie Zeit und Geld in Virtuelle Realität zu investieren. Die Aussicht, dass die VR-Technologie im Games-Segment zum massenmarkttauglichen Mainstream und damit betriebswirtschaftlich attraktiv wird, ist mehr als trübe.
„Virtual Reality wird dann zum Mainstream werden, wenn das Headset nicht länger an einen großen PC angeschlossen werden muss“. Dieses Zitat aus einem Interview der Kollegen von golem.de vom August stammt von Palmer Luckey. Dem Oculus-Chef, der mir im Sommer 2012 nervös den zusammengeklebten Prototypen seiner VR-Brille in die Hand drückte. Bis ein solches Headset mit der entsprechenden erbauten Technologie markttauglich ist, dürften locker noch einige Jahre ins Land gehen. Noch ein Zitat, dieses Mal aus einem Interview auf gamesindustry.biz: „I’ve been pretty consistent in my belief that VR is a fad. I think it’ll generate some interest among the hardcore gamers. And I see amazing possibilities in VR for social media and virtual meetings and training and crazy stuff like dealing with phobias. But for entertainment? I’m just not seeing it:“ Diese Meinung stammt von Warren Spector, einem der renommiertesten Spiel-Entwickler dieses Planeten. Spector hat die Industrie mit Meilensteinen wie Ultima VI, Wing Commander oder Deus Ex nachhaltig geprägt.
Virtuelle Realität wird keine Revolution innerhalb der Games-Industrie auslösen. Virtuelle Realität wird noch nicht mal ein kommerzieller Erfolg. Es war und ist ein Hype-Thema, das den hohen Erwartungen und Hoffungen nicht gerecht werden kann. Es ist und bleibt ein Mode-Trend im Games-Bereich. Es ist und bleibt ein Nischen-Markt für wenige Hardcore-Spieler. Nachhaltig und langfristig wird Virtuelle Realität nur andere Industrien und Branchen prägen. Welche das sind, verrate ich im nächsten Teil der Serie.