Es gibt unzählige Arten, Nachrichten online zu konsumieren. Zwischen Nachrichtenapp, Digitalkiosk, Instant Article, Datenjournalismus, Clickbait, Twitter und E-Paper findet man sich nur schwer zurecht. Hendrik Geisler führt in seiner Kolumne durch den Mediendschungel und schreibt über Apps, Tools und Services für Leser und Medienmacher. Diesmal: Das Medien-Start-up Grasswire – der angeblich größte Newsroom der Welt.
In der klassischen Nachrichtenwelt, dominiert von Printzeitungen, Radio- und TV-Programmen, waren die Rollen klar verteilt: auf der einen Seite standen die Produzenten, das waren unter anderem die Redakteure, Setzer, Moderatoren, Kameraleute, Autoren, Rechercheure und Fotografen. Auf der anderen Seite standen die Leser, Zuschauer und Zuhörer. Die große Masse, das ideale Konstrukt und Zielpublikum der nach ihr benannten Massenmedien. Sie kauften die Zeitungen und lasen die neuesten Nachrichten, die in Druckerschwärze den Weg zu ihnen fanden. Sie lauschten Radioreportagen oder bekamen täglich um 20 Uhr Bilder der weltweiten Ereignisse aus der tagesschau.
Ohne Zweifel war ein jeder Nachrichtenerzeuger auch stets ein Nachrichtenkonsument, doch die andere Seite, bestehend aus den eigentlichen Nachrichtenempfängern, hielt sich an die Grenzen. Entweder man war Journalist oder man war kein Journalist. Der Beitrag der Nicht-Journalisten zu Nachrichteninhalten beschränkte sich weitestgehend auf Leserbriefe. Diese Zeiten sind vorbei. Fing es relativ schnell, aber in den Möglichkeiten der Partizipation stark begrenzt, mit der Kommentarfunktion bei Artikeln oder einem Gästebuch auf Webseiten an, hat heutzutage beinahe jeder die Möglichkeit, mithilfe von Smartphone und Internet ein citizen reporter zu sein, und zwar nicht nur als Bild-Leser-Reporter.
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Keine Grenze zwischen Produzent und Empfänger
Arbeitet man schon journalistisch, indem man einen Tweet mit dem Bild eines wichtigen Ereignisses absetzt? Ist man bereits Journalist, weil man Infos oder Bilder der digitalen Öffentlichkeit zur Verfügung stellt? Wohl eher nicht. Viel zu selten findet Reflexion statt, wenn in 140 Zeichen und dazugehörigem Bild ein komplexer Sachverhalt vermittelt werden soll. Viel zu häufig werden soziale Netzwerke genutzt, um Meinungen, Stimmungsmache und falsche Informationen verpackt in vermeintliche Nachrichten zu verbreiten.
Das amerikanische Medien-Start-Up Grasswire hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, die Grenze zwischen Nachrichtenproduzenten und Nachrichtenempfängern zu verwischen, ja, sie sogar aufzuhaben. Auf Grasswire kann jeder schreiben, Fotos hochladen, Informationen hinzufügen oder löschen, sogar ganz neue Geschichten beginnen und diese mit Fakten, Zahlen, Worten und Bildern füllen. Hast du, lieber Leser, einen Twitter-Account? Ja? Sofort nachdem du diesen Artikel gelesen hast, kannst du rüber zu Grasswire und zum Redaktionsmitglied werden. Keine weiteren Fragen werden gestellt, keine Mindestqualifikationen, Bewerbungsschreiben, Praktika oder Textproben werden verlangt.
„Today, the honor of the world’s largest newsroom now belongs to Grasswire with a staff of 2.92 billion citizen reporters around the world.“
Selbstbewusst hat Grasswire am 1. September den Startschuss mit den Worten gegeben, sie hätten nun den größten Newsroom der Welt mit schlappen 2,92 Milliarden Reportern. Ich habe mich für euch in den Grasswire-Newsroom begeben, um zu schauen, wie sich mit so vielen Kollegen arbeiten lässt. Ich wollte herausfinden, welche Geschichten veröffentlicht werden, wer entscheidet, ob eine Meldung einen Grasswire-Artikel wert ist und ob es nicht eine Leichtigkeit ist, Grasswire für eigene Zwecke zu missbrauchen.
Mobile-optimiertes Layout
Der erste Eindruck von Grasswire ist noch relativ bescheiden. Das Layout ist nicht wirklich benutzerfreundlich, ich werde zunächst erschlagen von einem überdimensionierten Artikelbild inklusive Überschrift, das das komplette Fenster einnimmt. Es ist ein schaurig-schönes Bild vom zerstörerischen Feuer in Kalifornien, doch natürlich ist es nicht das einzige, das ich sehen möchte, wenn ich auf eine Nachrichtenseite komme. Ich sehe vor lauter Artikelbild die Nachricht nicht mehr.
Mag es daran liegen, dass ich Grasswire mit meinem 15-Zoll MacBook besuche? Probiere ich die Seite mit Smartphone und Tablet aus, ist es endlich möglich, mir auf angenehme Weise einen Überblick der Seite zu verschaffen. Jeder Artikel besteht aus einem Bild, einem Kasten, in dem die Fakten notiert sind und daran anschließenden Info-Häppchen, meist in Form von Tweets oder Bildern. Man ist ohne Umschweife im Artikel, braucht keinen „Mehr lesen“-Button zu drücken oder wird nach einem Teaser auf eine eigene Artikelseite geleitet.
Gesunde Themenmischung
Auf der FAQ-Seite von Grasswire steht, dass „alle aktuellen und wichtigen Nachrichtenthemen behandelt werden. Politik, Gesellschaft, Umwelt, U.S., Welt, Tech, Wissenschaft, Gesundheit, Disaster, etc.“ Und wirklich findet man auf dem Nachrichtenportal eine gesunde Mischung verschiedener Themen. Einem Bericht über die kalifornischen Waldbrände schließt sich ein Artikel zur ungarischen Grenzschließung an, auf einen politischen Bericht zur Ablösung des australischen Premierministers folgt die Meldung über neue Ebola-Fälle. Eine Artikelübersicht ist nicht vorhanden, was das Navigieren unnötig anstrengend macht. Eine Lösung wird den Grasswire-Machern zufolge aber bereits erarbeitet und demnächst implementiert.
Viele Artikel finden sich nicht auf der Seite, was daran liegt, dass Stories versteckt werden können. Kommt längere Zeit kein Update mehr, werden die entsprechenden Beiträge auf diese Weise archiviert. Meist können zwischen acht und 15 Texte gelesen werden. Alte Beiträge sind nur direkt über die URL aufrufbar. Die Archivierung alter Artikel ist jedoch naheliegend, bedenkt man den zusätzlichen Aufwand, den es mit sich bringen würde, müsste man diese noch immer pflegen.
Kein Platz für Trolle, sagt der Gründer
Apropos Aufwand: Absprachen vor der Änderung eines Beitrages sind nicht erforderlich, können jedoch getroffen werden. Dafür stellen die Macher eine Slack-Gruppe zur Verfügung. Hier soll der Prozess der Themenfindung stattfinden, sozusagen die Redaktionskonferenz. Doch ohne geht es auch. Jeder kann nach eigenem Gutdünken die Texte bis zur Unkenntlichkeit verändern. Man würde meinen, dass diese Möglichkeit Grasswire zum perfekten Platz für Trolle macht.
Austen Allred, CEO und Gründer von Grasswire, schließt Manipulationen nicht aus, setzt jedoch auf den Reinigungseffekt durch das Engagement der Redakteure und ernsthaften Mitstreiter. „Die Kontrollmöglichkeiten der Administratoren geben ihnen die Macht, Seiten in frühere Zustände zu versetzen und Trolle und Vandalen zu sperren“, sagt er. Er erklärt, dass der Community viel daran liege, Grasswire zu schützen. „Weil wir denjenigen mit gutem Vorsatz bessere Tools als den Trollen geben, werden die Guten gewinnen.“
Stammspieler unter sich
Um den Newsroom kennenzulernen, bevor ich den Reinigungseffekt der Community selber einem kleinen Test unterziehe, werfe ich mich ins Getümmel der Slack-Gruppe. Schnell fällt auf, dass es im Grunde eine Stammbesetzung gibt, die Informationen ordnet. Besonders Joanne Stocker und Matthew Keys stechen heraus. Eine Überraschung ist das nicht, sind sie doch die einzigen beiden Journalisten unter den sieben Angestellten, die bei Grasswire arbeiten. Außer ihnen finden sich etwa zehn weitere regelmäßige Mitstreiter, die Informationen beitragen, ordnen und Stories bearbeiten. Hin und wieder treffen Neue hinzu, die meiste Arbeit kommt jedoch von den Stammspielern.
„Momentan tragen etwa 150 Personen auf die eine oder andere Weise im Newsroom bei“, sagt Allred. Scrollt man jedoch durch die Gruppe, fällt diese Vielfalt, die der Gründer als die größte Stärke Grasswires betrachtet, nicht auf. Von 2,92 Milliarden Reportern ist Grasswire also noch weit entfernt. Allred gibt zu, dass die Zahl etwas reißerisch war, doch an die Stärke der Masse glaubt er trotzdem. „Wir sind der felsenfesten Überzeugung, dass die Berichterstattung besser wird, wenn mehr und mehr Reporter mitarbeiten.“
Uneinigkeit in der Bewertung von Erdbeben
Jeder darf posten, was er möchte, solange es von Bedeutung ist und der Wahrheit entspricht, doch gerade beim Punkt der Bedeutung gehen auch im Grasswire-Newsroom die Meinungen hin und wieder auseinander. Als User justin.t.gann von einem Erdbeben der Stärke 4.0 in Japan berichtet, möchte er die Meinung der Anderen hören, ob diese Information zu einem Artikel über Fluten in Japan hinzugefügt werden sollte. Joanne Stocker reagiert gelassen: „Well, a 4.0 earthquake isn’t a huge deal.“ Auch thedeadlybutter ist an anderer Stelle der Meinung, dass Erdbeben nicht berichtenswert seien: „Earthquakes happen every day.“
Tags darauf rumpelt wieder die Erde, doch dieses Mal in der Nähe Seattles. Anderer Ort, gleiche Stärke, 4.0. Und im Newsroom-Channel #site-updates erscheint automatisch die Nachricht über eine neue Story: „MatthewKeysLive created a new story. ‚Small Earthquake Hits East of Seattle, Washington‘.“
Berichterstattung in Echtzeit
An anderer Stelle zeigt sich die Kraft der großen Zahl an Reportern. Als in Kalifornien ein großes Feuer ausbricht, ist dies das vorherrschende Thema im Newsroom. Tweets werden gepostet, Informationen aus Livestreams zusammengetragen, Meinungen zur Katastrophe gesammelt und bewertet. Ist eine Information zur Fläche, dem Ausmaß oder der Zerstörungskraft des Feuers von mehreren Seiten bestätigt worden, wird sofort ein Update des Artikels vorgenommen.
Und hier liegt meines Erachtens die wahre Stärke des innovativen Nachrichtenmodells. Grasswire ist mit der geballten Nutzerkraft ein starkes Instrument, wenn es um die Berichterstattung von Katastrophen und anderen Ereignissen geht, bei denen es darauf ankommt, die Fülle an Informationen, die im Rauschen der sozialen Netzwerke auf uns einprasseln, wenn irgendwo auf der Welt etwas Großes passiert, zu bündeln und das Wichtigste herauszustellen. Mit Grasswire muss der Nutzer Twitter nicht mehr nach Hashtags durchsuchen, wenn er die in den Tweets enthaltenen Informationen erhalten möchte. Grasswire kuratiert das Durcheinander und setzt dem Leser idealerweise nur Fakten vor. Beim Waldbrand-Artikel hat sich dies besonders gut gezeigt. So viele Nutzer waren am Sichten, Einrichten und Bewerten der Nachrichten beteiligt, dass kurzerhand ein neuer Slack-Channel #cafires eingerichtet wurde, um das gemeinsame Tun noch besser kanalisieren zu können.
Reinigungseffekt im Stresstest
Ich möchte selber einmal mitmachen, die Nachrichten verfeinern, ein Faktor auf dem Weg zu besseren Informationen sein. Ich entdecke eine Dopplung im Artikel zum kalifornischen Waldbrand. Zweimal wird der Tod einer Person genannt. Die zweite Nennung halte ich für überflüssig. Was also tun? Löschen. Ohne Rücksprache mit den Grasswire-Kollegen lösche ich die zweite Nennung und erwarte schon heiße Diskussionen im Newsroom. Automatisch wird im Channel #site-updates eine Meldung mit der neuen Version und der alten Version verschickt. Austen Allred macht sich nicht die Mühe, die Artikel mühsam miteinander zu vergleichen, sondern fragt mich per Direktnachricht, was ich geändert habe. Ich erzähle von der Dopplung und dass ich sie gelöscht habe. Austen: „Ah, thank you :-)“.
Nach einem produktiven Beitrag möchte ich den Reinigungseffekt nun einem Stresstest unterziehen. Ich erstelle mir extra einen neuen Twitter-Account unter Decknamen und überlege, wie ich Grasswire verfälschen kann. Um die Grasswire-Redakteure zu trollen ohne falsche Informationen zu verbreiten, entscheide ich mich, lediglich einen „Tippfehler“ in einem Artikel einzubauen. Im Artikel zum australischen Premierminister lösche ich ein „i“. Ich bin mir sicher, dass das automatische Seiten-Update mich sofort verraten, der Fehler unverzüglich verändert wird. Doch nichts dergleichen. Bei Redaktionsschluss dieses Artikels fand sich der Fehler noch immer auf Grasswire.
Gut, ein kleiner Tippfehler. Das ist verzeihlich. Aber wie sieht es aus, wenn ich einen ganzen Satz hinzufüge, zudem noch bei einem Artikel, der sich ganz oben auf der Seite befindet? Bei einem weiteren Artikel zu den kalifornischen Waldbränden füge ich mitten in einen längeren Absatz zwischen zwei Sätzen eine Frage ein: „Hey, how are you?“ Ich bin mir sicher, dass dieser Fehler bemerkt wird. Man kann einen Tippfehler schonmal überlesen, aber wird man – komplett aus dem Zusammenhang gerissen – mitten in einem Artikel gefragt, wie es einem geht, muss man doch stutzig werden. Ich soll recht behalten, doch die Reinigung setzt viel später ein, als ich es erwartet habe. Fast 11 Stunden nach meiner, dem Erkenntnisgewinn gewidmeten Manipulation des Artikels löscht der User dannynalvarez die höfliche Nachfrage nach dem Befinden des Lesers.
Grasswire funktioniert, muss aber aufmerksamer sein
Grasswire funktioniert, vor allem bei Berichterstattungen, bei denen quasi minütlich neue Informationen eintreffen wie bei Naturkatastrophen. Es macht Spaß, den Redaktionsprozess via Slack zu verfolgen und wann hat man schon als Normalsterblicher die Möglichkeit, einen Artikel zu schreiben, der im Durchschnitt 17.000 Pageviews täglich hat? Das Medien-Start-up beweist, dass es möglich ist, Nutzerpower zu kanalisieren und etwas Großes daraus entstehen zu lassen. Grasswire steckt noch in den Kinderschuhen und vor allem das Layout, die Artikelnavigation und die Kontrolle bei Änderungen können noch verbessert werden. Nachrichten sind ein hohes Gut für mich, weshalb ich mich dagegen entschieden habe, sie in meinem Test wirklich grundlegend zu manipulieren, falsche Zahlen einzufügen, den Wahrheitsgehalt zu verändern. Doch die Möglichkeit ist da. Und noch scheint es einfacher zu sein, damit durchzukommen, als die Grasswire-Macher es gerne hätten.
Die Grundidee aber ist toll. Ich kann mein Wissen, meine Recherchefähigkeiten und meine Neugier nutzen, um Nachrichten zu erzeugen und zu verbessern. Und das ohne jegliches weiteres Wissen. Alles, was ich brauche, ist ein Twitter-Account. Ich werde Grasswire weiter verfolgen, bin unheimlich gespannt, wie sich dieses aufregende Nachrichtenmodell entwickelt. Es kann eine große Zukunft haben, wenn man es schafft, auch bei steigender Nutzerzahl den Überblick zu behalten und Trolle fernzuhalten. Ein innovatives Konzept, schwierige Zeiten für unzählige journalistische Plattformen, jeder kann hier Reporter sein, die Konstellation muss doch dutzende, hunderte, nein, tausende von Menschen anziehen. Nicht immer nur meckern über Clickbait, Katzenvideos und schwindende journalistische Qualität. Selber machen!, heißt die Devise.
Du möchtest deine Meinung zu Grasswire äußern, kennst andere spannende Projekte, bei denen die Grenzen zwischen Medienmachern und -konsumenten verschwimmen oder möchtest ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreib mir in den Kommentaren oder auf Twitter (@hendrikgee) mit #Mediendschungel.