Es gibt Trends, die beim geneigten Tech-Freund sofort für erhöhten Speichelfluss sorgen. Virtual-Reality-Headsets gehören dazu. Da auf dem Hype-Zug ohnehin kein Platz mehr ist, werfen wir in dieser Serie einen kritischen Blick aus der Distanz auf die Zukunft der virtuellen Realität. Jens Quentin orakelt, dass diese Technologie ausgerechnet in dem Bereich, in dem sie ihre Wurzeln hat, zum Scheitern verdammt ist. Teil III: Auf falscher Fährte // von Jens Quentin
Eines vorweg: Ich möchte hier keine Technik-Daten wiederkäuen oder Produkt-Informationen abschreiben, die inzwischen schon jeder Interessierte kennt. Hier geht es nicht um die Bildwiederholungsrate, das OLED-Display oder die Pixel-Anzahl. Das alles wurde woanders schon hinlänglich thematisiert und bewertet. In dieser Serie geht es vielmehr um eine grundsätzliche Einordnung der VR-Technologie im Jahre 2015 und um seine zukünftige Bedeutung für unterschiedliche Industrien und Märkte. In Teil 3 widme ich mich den Herstellern, die nicht aus der Games-Ecke kommen, sich aber über den Hebel Spiele im VR-Markt positionieren und etablieren wollen.
Aufs falsche trojanische Pferd gesetzt
Wie sprechsangen schon Die Fantastischen Vier in „Flüchtig“: „Die Wahrheit ist trocken und selten geschmackvoll – von Sachen, die rocken, da habe ich nen Sack voll.“ Daran denke ich, wenn ich einen Blick auf die VR-Projekte werfe, die ich in diesem Teil vorstellen will. Seien wir ehrlich: Wenn ein Hersteller ein neues Projekt im Markt platzieren möchte, muss er eine möglichst breite Käuferschicht ansprechen. Das ist zumindest betriebswirtschaftlich ratsam, weil mit der Anzahl der (Vorsicht: Marketing-Sprech!) anvisierten Zielgruppe auch die Anzahl der potenziellen Käufer steigt. Also gilt es, möglichst fluffige Fun-Themen zu finden, zu denen eine Vielzahl von Menschen schnell und einfach einen Bezug herstellen können. Und über die Medien berichten.
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Nochmal ganz ehrlich: Die zukunftsfähigsten Segmente für den Einsatz von Virtueller Realität sind gleichzeitig auch die zähsten, vordergründig unattraktivsten. Gehen wir einfach mal durch: Medizin? Total spannend und wichtig, aber kommunikativ ungefähr so unterhaltsam wie die nächste Wurzelbehandlung oder Darmspiegelung. Arbeitswelt? Auch eher suboptimal. Wer möchte nach Feierabend direkt wieder an Büro oder Fließband erinnert werden? Architektur? Sauspannend! Leider nur für ca. 0,2 Prozent der Angesprochenen. Pornografie? Extrem… “interessant“! Aber hier werden allein per Gesetz zu viele Zielgruppler ausgeschlossen. Nämlich alle unter 18 Jahren. Da muss es doch noch was geben, irgendwas mit hoher Konsensfähigkeit, Moment, Spiele! Kennt jeder. Kann jeder. Ist positiv besetzt. So kommt es, dass auch Hersteller, die sonst nix mit Games am Hut haben, dieses Segment für sich und ihr VR-Projekt entdecken. Schauen wir nachfolgend mal, was sich da so tummelt.
Zeiss VR One oder: Professioneller Linsen-Eintopf
Beginnen wir mit Zeiss VR One. Der Hersteller ist ein 1846 gegründetes, deutsches Unternehmen aus der feinmechanisch-optischen Industrie, wie es traditoneller kaum sein kann. Klassisches Musterbeispiel für „Made in Germany“. Jetzt wird dort auf der Firmen-Website neben emotional aufgeladenen Kracher-Themen wie „Industrielle Messtechnik“ oder „Spektroskopie“ auch VR One präsentiert. Ein mieser Werbetexter würde vermutlich Grenzwertiges wie „Zeiss wird sexy!“ formulieren. Dazu passt, dass VR-Interessierte auf eine stylisch-coole tumblr-Unterseite verlinkt werden. Ich frug mich dabei: Wieviele Besucher der Zeiss-Website wohl den Klick scheuen, weil sie tumblr für eine dieser seltsamen Seiten halten, auf denen sich illegales Zeug und Viren tummeln? Wir schweifen ab.
Pluspunkt der Hardware: Sie ist schon erhältlich. Zu einem Preis von aktuell 129 Euro. Allerdings auch nur deshalb, weil Zeiss selbst praktisch nur den Rahmen und die Linsen liefert. Die eigentliche Technik kommt von einem Smartphone, das in das Gestell geklemmt wird. Einerseits clever, weil man so immer die neuste Technik in der Brille hat. Andererseits hinken Smartphones bei der Darstellung von VR-Inhalten mit Oculus oder Project Morpheus noch hinterher. Außerdem sind bis dato nur sechs Smartphone-Modelle einsetzbar. Gute Arbeit hat Zeiss bei den verbauten Linsen geleistet. Wäre auch sonst auch ziemlich peinlich gewesen für die Optik-Experten. Da Zeiss weiß, was Vieraugen wie ich wünschen, gibt es demnächst VR One GX, ein Modell ohne einengendes Stirnband. Ob es bequemer ist, das Gestell die ganze Zeit halten zu müssen, überlasse ich eurer Fantasie. Zeiss hatte übrigens erstmals einen Stand auf der gamescom. Genau, das ist diese Spielemesse. Ein eindeutiges Zeichen für die Relevanz, die Zeiss selbst dem Segment Games beimisst.
Fove oder: Ich weiß, wohin du letzten Sommer geglotzt hast
Ich hatte in einem vorigen Teil schon einmal die Bedeutung des Heilsbringers USP angerissen. Jeder Marketing-Leiter klatscht begeistert mit Dollarzeichen in den Augen in die Hände, wartet ein Produkt mit einem solchen Alleinstellungsmerkmal auf. Bei Fove, dem Projekt eines japanischen Start-ups, ist der USP das Eye-Tracking. Jedes Auge wird dabei via Infrarotkamera abgetastet, um die jeweilige Blickrichtung zu erkennen. Das soll einen höheren Realiätsgrad vorgaukeln, weil das Auge so bei Fove wie im richtigen Leben nicht fokussierte Bereiche nur verschwommen wahrnimmt. Zusätzlich muss der Nutzer seine Birne weniger heftig und häufig bewegen, was die bereits bekannt Motion Sickness eindämmt.
Es wird auch möglich sein, die Steuerung komplett den Augen zu überlassen. Kennt ihr diese japanischen Riesenechsen, die Laserstrahlen aus den Augen schießen? Das könntet ihr sein. Zumindest virtuell. In einem Spiel könnte man diesen USP auch nutzen, um anhand von Mimik und Blickrichtung die Interaktionen mit anderen Charakteren bewusst oder unbewusst zu beeinflussen. Ihr solltet euch also beim nächsten RPG via Fove überlegen, ob ihr der Heroine mit der ausladenen Oberweite nicht doch lieber von Anfang an in die Augen schaut. Und nur dahin. Andererseits seid ihr schneller in einen Schwertkampf verwickelt, als ihr „sexuelle Belästigung“ sagen könnt (siehe dazu auch „Glasshole“ weiter unten). Laut offizieller Website können fertige Spiele ohne großen Aufwand an die technischen Möglichkeiten von Fove angepasst werden. Gutes Konzept. Wird in der rauen Programmierer-Wirklichkeit des Jahres 2016 aber leider niemals umgesetzt werden.
Project Sansar oder: Return to Calli Island?
Dieser Abschnitt beginnt mit einer Beichte. Ich gestehe alles. Schonungslos und mit brutalstmöglicher Offenheit möchte ich ein dunkles Kapitel meines digitalen Daseins mit euch teilen. Lange vor Katzen-Videos, YouTube-Stars und Game-Of-Thrones-Memes gab es einen Hype, dem sich niemand mit DSL-Leitung entziehen konnte. Dieser Hype war so aufgeblasen, so riesig, so absurd und so allgegenwärtig, dass ihm keiner entkam. Dieser Hype war Second Life. Im Jahr 2003 als 3D-Weltsimulation von Linden Labs an den Start gebracht, bevölkerten zwischenzeitlich mehr als 6 Millionen Avatare die virtuelle Welt. Auch ich war 2006 dabei. Auch ich habe mich virtuell eingekleidet, mir eine flotte Frise verpasst. „Kommunikation“ und „Interaktion“ sah so aus: Eine Gruppe männlicher Avatare in abstrusen Outfits mit lächerlichen Haarprachten umzingelten den einzigen weiblichen Avatar der Gegend und versuchten, irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Ich möchte gar nicht wissen, was (echte?) Frauen in Second Life alles in ihrem Chatfenster lesen mussten.
Den Thron des Absurden erklomm Second Life 2007 mit Calli Island. Reiner Calmund, Ex-Manager von Bayer 04 Leverkusen, hatte sich eine eigene virtuelle Insel bauen lassen. Der Traum eines jeden PR-Profis: „Promi“ mit eigener Projekt beim größten Technik-Hype seiner Generation. Im Gegensatz zur Leibesfülle des Testimonials schwand das Interesse an Second Life jedoch schnell. Lag eventuell an der extrem miesen technischen Umsetzung. Da dauerte es gern schonmal mehrere Minuten, bis sich die Welt aufbaute oder der Avatar sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte. Wenn der Avatar denn überhaupt mal zu sehen und nicht fehlerhaft dargestellt war. Dazu kamen Berichte über pädophil veranlagte Nutzer und die Verbreitung von Kinderpornografie. An Second Life zeigte sich einmal mehr: Gibst du dem Nutzer die totale Freiheit, wird er sie im positiven wie im negativen Sinne ausreizen.
Warum dieser Blick in den virtuellen Abgrund von damals? Linden Labs bastelt erneut an eine virtuellen Welt, zeitgemäß optimiert für VR-Brillen wie Oculus oder HTC Vive. Neben einer besseren technischen Performance verspricht der Betreiber für Project Sansar eine zeitgemäße Optik und einen höheren Bedienungskomfort. Ich bin gespannt, ob Linden Labs in der neuen schönen Welt potenziellem Missbrauch Herr wird. Denn auch mit VR-Brille bleibt ein Pädophiler pädophil und ein Straftäter Straftäter. Bei Second Life wurde bewusst das Thema „Sex“ im Konzept integriert, um die Nutzerzahl nach oben zu treiben. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Thema bei Project Sansar ausgespart wird. Da müssen die Entwickler wohl oder übel andere Ansätze finden, um User in die VR-Welt zu locken. Zur Not gibt es halt einfach nochmal Calli Island.
Google Cardboard oder: VR DIY
Achtung, jetzt kommt ein Karton! Ich finde es bemerkenswert, dass ein Unternehmen, dass dafür bekannt ist, jede neue Trend-Technologie mit ein paar Milliarden aus der Portokasse aufzukaufen, nun einen Pappkarton anbietet, um VR für jeden erschwinglich zu machen. Sowas hätte ich von einem 3-Studenten-Start-up aus Berlin erwartet, abr nicht von einem der wertvollsten Unternehmen mit einer der wertvollsten Marken der Welt. Das macht die Idee aber nicht schlechter, ganz im Gegenteil. Das macht Google aus meiner Sicht sympathisch.
Ein Karton, zwei Linsen, zwei Magneten, ein Klettverschluss – das alles für schlappe 5 bis 20 Euro (je nach Modell und Bastellust des Käufers). Das Einzige, was man dann noch an Technik benötigt, ist ein Smartphone. Aber das hat inwzischen ja sowieso jeder. Zumindest jeder, der sich auch für Virtuelle Realität interessiert. Spiele, die für Google Cardboard entwickelt wurden, sind übrigens auch mit dem Zeiss VR One kompatibel. Mit einem entsprechenden SDK für Android und Unity gibt Google Entwicklern Werkzeuge an die Hand, um neue Apps und Spiele zu basteln. Smart: So schaut das Unternehmen mal, was die Entwickler aus den vorgegeben Möglichkeiten machen. Die besten Leute und Konzepte kann man sich ja dann einfach schnappen. So wie sonst die Trend-Technologien.
Google Glass oder: Der Metzger war sein Schicksal
Bevor jemand schreit: Mir ist bewusst, dass Google Glass das Thema Virtuelle Realität mehr streift als trifft. Trotzdem möchte ich diese Technologie am Ende dieses Teils kurz anreissen. Vor allem deshalb, weil ich eine sehr tragische persönliche Geschichte mit dieser Technologie verbinde. Diese Geschichte geht so: Im Sommer 2014 geht Jens mit seinen beiden damaligen Agentur-Kollegen in die Mittagspause. Der traditionelle Münchner Metzger neben dem Büro soll es sein. Voller Hoffnung auf eine leckere Leberkäs-Semmel betreten sie nichtsahnend das Geschäft. Wie immer um diese Tageszeit herrscht reger Betrieb vor dem Tresen. Vor allem ältere Münchner kaufen hier treu Wurst und Fleisch. Eine Person sticht an diesem Tag jedoch aus der Masse hervor: ein junger Mann mit Google Glass. Er trägt ein Shirt mit Google-Schriftzug, ist also vermutlich ein Repräsentant des Unternehmens und reiht sich brav in die Schlange ein. Jens hat den spontanen Impuls, dieses abstruse Szenario mit dem Smartphone festzuhalten, widersteht diesem aber aus Scham.
Irgendwann sind die Leberkäs-Semmeln fertig, der Google-Glas-Mensch hat den Laden verlassen. Das Besondere, Rätselhafte, Faszinierende an dieser Geschichte? Es war das einzige Mal, dass ich einen Menschen mit Google Glass in freier Wildbahn erblickt habe. In einer Metzgerei. In der Technologie-Hochburg München, wo gefühlt jeder dritte Passant am Erstverkaufstag seine Apple Watch spazieren trug und dabei aufpassen musste, nicht von einem BMW i8 überfahren zu werden. Das sagt zum einen alles über das traurige Schicksal eines Projekts aus, das 2012 genauso gehypt wurde wie fünf Jahre davor Second Life. Zum anderen zeigt es, mit wieviel Wucht ein Shitstorm ein Produkt noch vor der Marktreife treffen kann. In diesem Fall waren es die vehemente Kritik in den Bereichen Datenschutz und Privatsphäre. Google-Glass-Nutzer wurden deshalb auch mit dem Begriff „Glasshole“ stigmatisiert. So wurde aus einem Technologie-Freak schnell ein verhasster Datensammler ohne Gewissen und Manieren.
All die hier vorgestellten Projekte, Produkte und deren Hersteller setzen auf das Games-Segment als treibende Kraft, um VR-Brillen an den Kopf des Käufers zu bringen. Das ist aus Marketing-Sicht verständlich. Die damit verbundene Hoffnung wird sich aber nicht erfüllen. Im nächsten Teil der Serie zeige ich auf, warum dem Thema Virtuelle Realität gerade im Bereich Spiele keine rosige Zukunft beschert sein wird.