Das Internet wird immer weitläufiger, dynamischer, abstrakter. Generalisten sehen sich auf Grund der Tiefe zunehmend überfordert und resignieren, Spezialisten sind im siebten Datenhimmel. Information Overlove – ein Lobgesang auf das fokussierte Meistern der Datenflut, illustriert an #duranadam, einem Internetphänomen. // von Michael Müller
Ob auf dem Smartphone, im Browser, im Auto oder gar in der Waschmaschine: Das Internet ist überall. Dieser Trend macht den Umgang mit den Auswüchsen des Datennetzes zunehmend komplexer. Gestern gab es nur Facebook und Twitter, heute sind es visuelle Netzwerke wie YouTube, Instagram oder Pinterest, die auffällig stark wachsen.
Diese dynamische Vielfalt von immer neuen Angeboten und Diensten fordert selbst alte Internethasen täglich aufs Neue heraus, und erschlägt so manch fragilen Spross der Neugierde bereits im übersättigten Keim. So stellt sich die Frage, ob diese unüberschaubare, schwer zu beherrschende digitale Masse ein willkommener Trend ist, der ohne Einwände zu begrüßen ist? Um diese Frage zu beantworten, blicken wir zunächst einmal zwei Jahre zurück.
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Vom echten ins digitale Leben – der Datenflut sei Dank
2013 durchlebte die Türkei eine kleine digitale Revolution. Istanbul, die gleichsam geografische wie auch kulturelle Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, wurde innerhalb weniger Stunden in den Ausnahmezustand versetzt, als Tausende gegen die konservative Politik der Regierung Recep Tayyip Erdoğans auf die Straße gingen.
Die sozialen Netzwerke pulsierten und türkischsprachige Hashtags und Trends besetzten weltweite Top-Positionen. Sekündlich spülte das echte Leben, der reale Protest, wahre Massen an Texten, Fotos und Videos aus dem Epizentrum der Gewalt ins digitale Datennetz.
Der türkische Frühling brachte auch ein Internetphänomen hervor, das unter dem Hashtag #duranadam über Twitter geteilt wurde. „Duran adam“, der stehende Mann, verharrte stundenlang regungs- und sprachlos auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul, seinen Blick auf ein riesiges Banner des Gründers der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, gerichtet.
Nacht auf der Polizeistation
Ein Passant entdeckte den Künstler, der in stillem Protest an die kemalistischen Werte seines Heimatlandes erinnerte, machte ein Foto und teilte es über das soziale Netzwerk mit dem blauen Vögelchen. Kurz nachdem die Information über etliche Retweets im Netz multipliziert und verteilt wurde, pilgerten weitere Menschen zu #duranadam, ausgehend von dem digitalen Impuls, den sie über Twitter erhielten.
Minuten später war der junge Mann umgeben von Leuten, Kamerateams sowie Journalisten aus aller Welt und musste schlussendlich die Nacht auf der Polizeistation verbringen, da das immense Interesse, die Menschenansammlung, ihn zu einem Demonstranten machte, der gegen das örtliche Demonstrationsverbot verstieß. Auf der ganzen Welt berichteten daraufhin Leitmedien über den einsamen Protestanten, in Deutschland waren es unter anderem BILD, Spiegel Online, Stern, SZ, Frankfurter Rundschau und Die Welt.
Die reale Macht der digitalen Multiplikatorkräfte
Das Beispiel illustriert sehr gut, welch enorme Multiplikatorkräfte soziale Netzwerke ausüben können. Ausgehend von einem realen Phänomen, das mit Hilfe eines Fotos in die digitale Welt transferiert und dort etliche Male geteilt wird, entlädt sich eine enorme Kraft, die sowohl in die digitale wie auch in die reale Welt ausstrahlt.
Ohne die kurzweilige, rasende Datenflut, die unaufhörlich dahinplätschert und folglich auch viele Menschen erreicht, die sich dafür interessieren und darauf fokussieren, hätte der rastende, schweigende Mann auf dem Taksim-Platz wohl kaum Aufsehen erregt – es niemals in die weltweite Presselandschaft geschafft.
Gesellschaftlicher Ertrag überwiegt Schaden
Ist die Datenflut folglich tatsächlich ein willkommener Trend, der ohne Einwände zu begrüßen ist? #duranadam unterstreicht, dass die Antwort „ja“ lauten muss. Einen kleinen Vorbehalt gibt es aber, denn die Masse an guten und schlechten Daten strengt enorm an. Es kostet Zeit und Kraft, wenn es um die Evaluation dieses riesigen digitalen Gesamtbildes geht. Und trotzdem ist die steigende Datenflut auch in der Zukunft eine große Chance für die gesamte Internetgemeinde, wenn Spezialisten es schaffen, sich auf einzelne Datenwolken zu fokussieren.
Der gesellschaftliche Ertrag aus intensiv bewerteten und eingeordneten Informationen überwiegt den Schaden, der durch die Resignation deprimierter Generalisten letztlich entsteht. Die Zeit der Fokussierung ist folglich gekommen – dann steht der freien Liebe zur Datenflut nichts mehr im Wege.
Dieser Artikel ist erstmals im vierteljährlich erscheinenden Magazin SHIFT erschienen. Bei dem Text handelt es sich um einen von fünf Debatten- und Meinungsbeiträgen rund um die ansteigende Informations- und Datenflut, die uns tagtäglich umgibt.