Im Dezember 2011 investierte der saudische Prinz Walid Bin Talal mit seiner Investmentfirma Kingdom Holding 300 Millionen Dollar in Twitter. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die überwiegende Meinung hielt den Deal für positiv, zumindest aus Sicht des Unternehmens Twitter. Es gab jedoch auch kritische Stimmen, die Bedenken hinsichtlich der Motivlage des saudischen Prinzen äußerten. Immerhin erfolgte die Investition in einem Jahr, das das Ende für etliche undemokratische Staaten in der Region markierte.
Diese Entwicklung, die als arabischer Frühling in die Geschichtsbücher eingegangen ist, wurde maßgeblich unterstützt durch die flächendeckende Verfügbarkeit sozialer Kommunikationsmedien, allen voran Twitter. Würde Bin Talal versuchen, Twitter über sein Investment zu beeinflussen oder sogar zu schließen? Die „New York Times“ beantwortet diese Frage – ohne sich dezidiert damit zu befassen – in einem aktuellen Bericht und die Antwort ist ganz erstaunlich.
Frühling in Saudi-Arabien?
Um die Erstaunlichkeit der Antwort verstehen zu können, müssen wir uns zunächst ein wenig mit den Bedingungen in Saudi-Arabien befassen.
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Die Saudis sind die weltweit größten Öl-Exporteure. Allein im letzten Jahr kauften sie den Amerikanern Rüstungstechnologie im Wert von 60 Milliarden Dollar ab. Trotz des massiven Reichtums einer Minderheit der Saudis liegt die Arbeitslosigkeitsrate bei rund 25 Prozent der männlichen Bevölkerung. Ein Drittel der Bevölkerung, die sich auf insgesamt 27 Millionen Menschen beläuft, ist jünger als 15 Jahre, zwei Drittel sind jünger als 25. Das Durchschnittsalter liegt bei 21,4 Jahren. Und der im gesamten arabischen Raum vorhandene explosive Mix aus Sunniten (rd. 85 Prozent) und Schiiten (rd. 15 Prozent) ist auch im saudischen Königreich anzutreffen. Frauen dürfen in Saudi-Arabien weder wählen, noch gewählt werden, wobei Wahlen ohnehin nur auf einer kommunalen Ebene stattfinden. Nach wie vor dürfen Frauen in Saudi-Arabien nicht einmal Auto fahren.
Nach dem Tode des Königs Fahd 2005 wurde dessen Bruder Abdullah inthronisiert. Abdullah ist 88 Jahre alt. Nach saudischer Tradition kann nur ein Mitglied der Familie Abd al-Aziz König werden. Da alle noch lebenden Mitglieder dieser Familie als betagt bezeichnet werden können, steht Saudi-Arabien in näherer Zukunft vor mehreren Wechseln an der Staatsspitze. Auch in Saudi-Arabien gibt es eine Demokratiebewegung, die bislang vom Staat unterdrückt wird. Parteien und andere Formen politischer Beteiligung, etwa Gewerkschaften sind verboten. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst seit Jahren. Es ist nicht weit hergeholt, zu vermuten, dass sich spätestens mit dem nächsten Herrscherwechsel die Bevölkerung nicht mehr damit zufrieden geben werden wird, den nächsten Greis auf dem Thron zu akzeptieren.
Bin Talal, der Twitter-Investor, gilt als führender Berater der Herrscherfamilie. Ihm wird einiger Einfluss auf die Führung der Amtsgeschäfte zugetraut. Insofern muss man ihm auch eine Mitschuld an den undemokratischen Zuständen in seinem Land beimessen. Relativ naheliegend erschien daher die Vermutung, die Überweisung auf Twitters Geschäftskonto habe letztlich eine Kontrolle des Kommunikationsstroms, zumindest in Saudi-Arabien zum Ziel.
Und tatsächlich kündigte Twitter kurz nach dem Zahlungseingang an, künftig Inhalte in Anwendung der jeweiligen nationalen Rechtslage filtern zu wollen. Nachtigall, ick hör dir trapsen. Hatte Bin Talal kurz mit Costolo telefoniert? Tatsächlich passierte nichts dergleichen, zumindest nicht im Lande des Prinzen. Die erste Ausfilterung rechtsbrüchiger Inhalte fand vor einigen Tagen interessanterweise nicht in einem undemokratischen Staat, sondern ausgerechnet in Deutschland statt. Was allerdings wesentlich darauf zurück zu führen ist, dass Twitter diese Vorgehensweise zuvor bereits mehrfach, etwa gegenüber der tunesischen Regierung, abgelehnt hatte.
Stattdessen entwickelt sich Twitter in Saudi-Arabien ganz prächtig und ganz anders, als die Vorgeschichte implizieren würde.
Twitter: bereits 2,9 Millionen Saudis nutzen den Dienst als Speaker’s Corner
Robert Worth von der New York Times bezeichnet die Entwicklung in Saudi-Arabien als Revolution. Es handelt sich nicht um eine Revolution, wie wir sie ansonsten im arabischen Frühling beobachten konnten, sondern vielmehr um eine, wie man sie gerne hätte beobachten wollen. Die Saudis nutzen Twitter, um ihre politische Meinung zu äußern und, und das ist das Erstaunliche, der Staat nimmt die Kritik ernst und tritt in den Dialog.
Nach Worths Recherchen sind mittlerweile 2,9 Millionen Saudis auf Twitter aktiv, das Land stellt Twitters am schnellsten wachsende Nutzerbasis. Dabei sind die twitternden Saudis keiner konkreten politischen Richtung zuzuordnen, sondern rekrutieren sich aus allen Lagern. Kritisiert wird nicht etwa die Religion, auch nicht im Sinne des religiösen Führungsanspruchs. Hier scheint es eine große Einigkeit zu geben. Wer den Propheten kritisiert, wird kollektiv geächtet und einhellig verurteilt; eine Erfahrung, die der junge Autor Hamza Kashgari machen musste. Nach drei vermeintlich Mohammed-kritischen Tweets sitzt er mittlerweile wegen Gotteslästerung im Gefängnis.
Kritisiert wird die Staatsführung und die Gesetzeslage, etwa mit Blick auf die Rechte von Frauen, beklagt wird vermeintliche Korruption in Regierungskreisen, die Situation in den saudischen Gefängnissen, die Arbeitslosigkeit oder die fehlende medizinische Grundversorgung. All das passiert und die Regierung antwortet innerhalb des Mediums, teils mit deutlichem Engagement. Eine echte Diskussion scheint sich zu entwickeln, die im Lande zunächst uneingeschränkt positiv bewertet wird.
Natürlich bleibt abzuwarten, wie lange die Regierung diesen Weg zu mehr Demokratie mitzugehen bereit ist. Vorteilhaft ist derzeit, dass die Proteste sich nicht in Richtung eines Umsturzes orientieren, sondern tatsächlich inhaltliche, innerhalb des Systems mögliche Umstrukturierungen zum Ziel haben. Insofern geht es für die saudischen Herrscher nicht um die sprichwörtliche (Rinds-)Wurst, sondern eher um unangenehme, aber nicht existenzbedrohliche Reformen.
Einschränkend sei noch erwähnt, dass das saudische Regime dann doch nicht völlig entspannt im Umgang mit Twitter ist. Nach Worths Erkenntnissen twittern Behördenmitarbeiter Treueparolen unter falschen Namen, saudischen Richtern wurde ein Twitter-Verbot auferlegt. Und den unangenehmsten Zeitgenossen, den Twitterer Mujtahidd, der ungewöhnlich detaillierte Informationen zu vermeintlichen Korruptionsfällen zum Besten gibt, hätte man auch gern dingfest, kann ihn aber wohl nicht ausfindig machen.
Spannend…
Bildquelle: Al Jazeera auf Flickr
(Dieter Petereit)