Wenn ich aus dem Stand die Frage beantworten müsste, was die größte Technikrevolution 2011 gewesen ist, dann – müsste ich mich erst einmal hinsetzen. Tablets? 2010. Ultrabooks? 2008 (siehe MacBook Air). Lytro, eine Kameralinse, um Bilder in der Nachbearbeitung erst scharf zu stellen? Eine feine Sache. Und doch, wie Instagram, eher eine Erfindung für Bildlegastheniker. Windows 8? Wirkt sehr verspielt. Google Plus? Wie Facebook, nur entspannter. Microsoft Kinect oder die Metro-Oberfläche für Windows Phone? 2010. Biegsame Tablets? 2012. Android 4.0 Ice Cream Sandwich? Okay, eine gute Weiterentwicklung, aber eben auch nur das. Siri? Endlich mal eine funktionierende Sprachsteuerung – in einem langweiligen iPhone 4S und mit Schwächen in der deutschen Version.
Nein, ganz ehrlich: Einen echten Knaller habe ich 2011 nicht gesehen. Und ja, das ist ein Lamentieren auf hohem Niveau. Denn ein enttäuschendes Jahr war 2011 nicht. Es gab wichtige Entwicklungen, interessante Trends und Vorboten auf das, was uns in den nächsten Jahren erwarten wird. Es war ein Jahr des Übergangs. Eine Rückblende.
2011, das mobile Jahr
2011 war das Jahr des Mobile Computings. Smartphones feierten ihren Durchbruch am Massenmarkt und die Hersteller versuchten, Tablets ins Rennen gegen das iPad zu schicken (was sie verloren). Apps wurden hundertmillionenfach heruntergeladen. Waren konkurrenzfähige Tablets 2010 bis auf das iPad 1 und Samsungs erstem 7“ Galaxy Tab nur mit dem Vergrößerungsglas zu finden, brachte in diesem Jahr eigentlich jeder Hersteller Tablets auf den Markt. Für die meisten endete das mit einer herben Enttäuschung. Android 3.x Honeycomb brachte nicht den erwünschten Durchbruch für Android-Tablets, und erst Samsung schien mit seinen neu aufgelegten Galaxy Tabs dem Marktführer ein wenig gefährlich werden zu können – bis Apple klagte. Doch dann kam Amazon und brachte Apples heile Tablet-Welt mit dem 200 US-Dollar billigen Kindle Fire ins Wanken.
Für einige wurde das Mobilfunkjahr 2011 dann aber auch zum Desaster: HP gab seine Mobilfunklinie vorübergehend auf und verschleuderte die letzten Tablets und Smartphones. Blackberry-Hersteller RIM schwammen die Felle davon und Nokia verlor mehr als die Hälfte seines Marktanteils. Die Finnen setzten den mobilen Betriebssystemen MeeGo und Symbian im eigenen Hause ein Ende. HPs WebOS darf nach langem Gerangel noch einmal einen Neubeginn als Open-Source-System versuchen – und wird es ebenso schwer haben, wie Intels zweifelhafter Vorstoß mit dem MeeGo-Nachfolger Tizen.
Apples Alleingang bei den Smartphones wurde in diesem Jahr gestoppt. Samsung hatte mit dem Galaxy S2 und dem Galaxy Nexus dem iPhone 4/4S ebenso etwas Schlagkräftiges entgegen zu setzen wie HTC mit seinem Desire HD oder LG mit seiner Optimus-Linie. Während die Laptop-Hersteller künftig mehr auf Ultrabooks setzen statt auf Netbooks, ist ein Produkt in diesem Jahr größtenteils gescheitert: Cloudsysteme wie Googles Chrome OS mit den Chromebooks, die ohne kabellosen Internetzugang praktisch gar nicht zu bedienen sind.
Die Social-Network-Schwemme
Erst heute las ich, dass die Occupy-Bewegung ein eigenes Social Network eröffnen will. Wikileaks ist ihnen damit schon zuvor gekommen. Und selbst das kommunistische Eiland Kuba hat ein eigenes Social Network „Redsocial“ gestartet. Dabei war 2011 ein beliebtes Diskussionsthema, ob Facebook bald das ganze Web beherrschen könnte. Nicht zu Unrecht, wie das geplante Seaming Sharing zeigt. An dem Netzwerk mit inzwischen 800 Millionen Nutzern schien niemand vorbei zu kommen. Doch dann kam Google Plus und zeigte dem Gesichtsbuch seine Grenzen auf. Andere wie Anybeat, Unthink und Chime.in wollten es besser machen als der Große Bruder. Facebook wird stark bleiben, aber man wird in Zukunft vor allem in Sachen Datenschutz nicht mehr machen können, was immer man will.
In Deutschland derweil sterben die meisten altbekannten sozialen Netzwerke – bis auf eines: Xing profitiert nicht nur von der Krise (Jobplattform), sondern auch dem Wirtschaftsaufschwung; ein Redesign mit Tücken und die Konkurrenz durch Facebook und LinkedIn machte dem Netzwerk offenbar nichts aus. Die Hamburger schreiben Gewinn und wollen 2012 mit 100 neuen Mitarbeitern noch einmal ganz groß rauskommen. Parallel dazu entwickelte sich gerade Ende des Jahres ein interessanter Trend: Wer nicht mehr alles öffentlich machen will, für den eignet sich vielleicht ein Private Network.
Berlin, das Startup-Mekka
Auch 2011 gab es wieder namhafte deutsche Copycats. Berüchtigtstes Beispiel ist wohl Wimdu, das Samwer-Pendant der in Deutschland noch kaum bekannten privaten Unterkunftsbörse AirBnB. Immer nur Kopien aus Deutschland. Es reichte! Und dann passierte etwas, das ungewöhnlich war für den Standort Deutschland: Die Berliner Startup-Szene begann 2011 so richtig zu blühen – und geriet in den Fokus von US-Medien. Deutschland Berlin? Supercool! Seitdem scheinen die deutschen Startups – nicht nur, aber vor allem in Berlin – wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Internationale Investoren (Schauspieler Ashton Kutcher ist einer von ihnen) scheinen ebenfalls langsam auf den Geschmack zu kommen. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mich das nicht zumindest ein bisschen freuen würde. Auch wenn nach wie vor viele Startups dabei sind, bei denen man die Sinnfrage stellen muss. Amen, um das in diesem Sommer ein zweifelhafter Hype entstand, ist eines davon.
Die Blase, die einfach nicht platzen will
Facebook wurde Ende November auf einen Wert von 100 Milliarden US-Dollar geschätzt, Groupon zeitweise auf 25 Milliarden, Zynga auf bis zu 20 Milliarden. Man spekulierte, dass sich eine neue Dotcom-Blase bilden würde, wie um die Jahrtausendwende. Aber zumindest in diesem Jahr ist sie nicht geplatzt. Auch weil die Protagonisten von heute teilweise reelle Gegenwerte erzielen. Zynga und Facebook, das zeigen die Zahlen, nehmen nicht nur Geld ein, sie arbeiten profitabel. An der Börse erlitten Zynga, LinkedIn, Pandora und vor allem Groupon dennoch einen leichten Schock. Alle Aktienkurse sanken langfristig unter den Ausgabewert. Von einem Desaster ist das noch weit entfernt. Aber zuletzt hat sich die Euphorie ein wenig abgekühlt. Das Web ist in diesem Jahr bodenständiger geworden.
Bist du noch eine App oder schon ein Ökosystem?
Das Jahr der Ökosysteme
Gut, wenn man ein interessantes Webtool oder eine App entwickelt hat. Besser, gleich eine eigene Plattform zu haben. Wer etwas auf sich hielt, sorgte 2011 mit einem eigenen „Ökosystem“ dafür, dass er auch morgen noch Geld verdient, wenn Apple, Google und Amazon schon ihre 30 Prozent vom Kuchen abgeschnitten haben. Musikabo-Dienst Spotify lässt Apps entwickeln und wird damit zu einem Musik-Öksystem. Evernote baut Apps um die eigene Plattform herum und wird damit zu einem Ökosystem. Facebook als (mobile) Spiele- und App-Plattform – ebenfalls ein Ökosystem. Microsoft-Chef Steve Ballmer wollte in Kooperation mit Nokia um Windows Phone ein neues Ökosystem aufbauen. Das Bonner Startup Doo will eine API anbieten, Apps entwickeln lassen und damit ebenfalls zum Ökosystem werden. Ökosysteme – ein Modewort und ein Trend für die Zukunft.
Aktivismus mit Anonymous, infantiler Spaß mit LulzSec
Für wen es 2011 zu wenige interessante Erfindungen gab, der erlebte auf anderen Bühnen sein Popcorn-Kino: Apple und Samsung lieferten sich eine hitzige Schlacht darum, wer wessen Patente verletzt haben könnte. Auch Motorola, Microsoft, Nokia, HTC … waren in Patentstreitereien verstrickt. Sony hatte derweil mit einem der größten Sicherheitslecks in der Geschichte des Internets und gleich mehreren brutalen Angriffen zu kämpfen.
Während man Anonymous politische und teils durchaus ehrenwerte Motive hinter verschiedenen Hacks attestieren konnte, war die infantil auftretende Cracker-Gruppe LulzSec (Bild rechts) nur auf Krawall aus. Nach 50 Tagen und zahlreichen Hacks – unter anderem gegen Sony – löste sich die Gruppe offiziell auf. Die britische Polizei gibt an, zwei der sechs mutmaßlichen Aktivisten gefasst zu haben. Die Trauer darüber hielt sich webweit in Grenzen.
Crowdfunding: Finanzier dich selbst
Was tun, wenn man eine gute Idee hat, Investoren aber rar und die Banken mit sich selbst beschäftigt sind? Man sammelt einfach Geld aus dem Internet ein. Crowdfunding ist einer der erfreulichsten Trends, die in diesem Jahr so richtig durchstarteten. Ein Computerspiel etwa oder selbst zwei deutsche Kinofilme wie der Erotikstreifen „Hotel Desire“ und der „Stromberg“-Spielfilm wurden mit Geld aus dem Netz finanziert. Dabei etablierte sich das Konzept „Give a little, get a lot.“ Wer investierte, bekam eine Kopie des Spiels, wurde im Abspann des Films genannt oder erwarb gleich Anteile daran. Wer immer nun ein Projekt ins Leben rufen will und nicht weiß, wie er es finanzieren soll – vielleicht hilft ihm die Webgemeinde.
In weniger als einer Woche investierten Fans via Crowdfunding 1 Million Euro in den „Stromberg“-Kinofilm.
Etwas enttäuschend: 3D und NFC
In diesem Jahr kamen einige 3D-Fernseher, 3D-Bildschirme und 3D-Smartphones auf den Markt und im Kino liefen gleich mehrere 3D-Blockbuster. Versuche, wie die Bundesliga-Konferenz in 3D, wurden gestartet. Und doch hatte man zuletzt den Eindruck, dass der Trend schon wieder rückläufig sei und sich – wieder einmal – nicht durchgesetzt habe. Die Idee zumindest, dass wir alle in Zukunft in unserem Wohnzimmer sitzen und dreidimensionales Fernsehprogramm durch eine Polfilter- oder (eher) Shutterbrille gucken – sie wirkt nach wie vor fremd. Das Thema ist noch lange nicht durch, aber der Hype scheint abgeebbt zu sein.
Und was wurde eigentlich aus NFC? Der Sensor für kontaktloses Bezahlen wurde 2011 hauptsächlich von Nokia und Google gefördert. Googles Bezahlsystem Wallet startete zwar im Mai, Smartphones mit NFC sucht man allerdings weiterhin mit der Lupe. Googles eigenes Schlachtschiff Galaxy Nexus ist mit NFC ausgerüstet. Nokias neue Lumia-Geräte hingegen verzichten noch auf NFC, weil eine Unterstützung in Windows Phone dafür nicht vorgesehen ist. Der Stein wurde also auf den Gipfel gehievt, es hat ihn aber noch (!) niemand ins Rollen gebracht. Da hätte ich mir in diesem Jahr etwas mehr erwartet.
Musikindustrie versucht’s mit Flatrates, Bücher werden digital
Für mich das herausragendste Dauerereignis des Jahres 2011: Die Musikindustrie ist des jahrelangen Kampfes müde geworden. Ein Label nach dem anderen und zum Jahresende sogar die Gema gaben ihre Vorbehalte gegen Musikabos auf, und die Dienste schießen seither wie Pilze aus dem Boden. Apple überzeugte die Musikindustrie, das eigene Cloud-Angebot iTunes Match zu genehmigen. Ein Schritt, der den Film- und Fernsehstudios in Deutschland noch bevor steht, auch wenn erste Weichen in diesem Jahr gestellt wurden. Und wer hätte das gedacht: Von allen Medien startete vor allem jenes seinen elektronischen Siegeszug, von dem man dachte, es würde es nie mehr schaffen: Bücher. Amazon verkauft inzwischen in den USA mehr E-Books als gedruckte Bücher und die Branche kontert den Erfolg mit eigenen Billig-Readern. Ein weiterer Nagel im Sarg physischer Medien.
In den Fängen einiger Großkonzerne
A propos Amazon: Das Online-Versandhaus schickte sich in diesem Jahr an, Vorreiter des E-Contents zu werden: Große E-Book-Börse, selbst verlegte E-Books (ohne den Umweg der Verlage), Musik- und Filmdownloads, eigener Android-App-Store, zuletzt sogar ein eigenes Tablet. Konditoren namens Apple, Google, Facebook, Microsoft und Amazon drängeln sich um den Content-Kuchen und versuchen mit dem Tortenheber, ein möglichst großes Stück für sich herauszuschneiden. Webinhalte könnten zunehmend von Großkonzernen vermarktet werden – eine große Befürchtung der Nutzer im Jahr 2011. Und wir sind dabei gleichzeitig Produzenten, Käufer – und Ware.
Zum Abschluss ein kleiner Exkurs in die Welt des Fernsehens: Im Casting für die Talent-Show „The Voice of Germany“ wird niemand von einem Jury-Mitglied gedemütigt. Der Kandidat – so er die Prüfung besteht – darf sich vielmehr ein Jurymitglied aussuchen, in dessen Team er gehen will. Die Show ist damit ein Beispiel für eine Zeitenwende, die sich auch im Internet vollzieht. Ideen sind wieder gefragt, Talente werden gefördert, Visionäre mit neuen Ideen – wie man mit Steve Jobs in diesem Jahr einen großen verloren hat – sind begehrt. Die interessantesten deutschen Startups heißen nicht mehr zweckmäßig Zierfische-Aufziehen.de, sondern haben fantasievollere, international klangvolle Namen wie Eye.em, Aupeo oder Moped.
Und vielleicht ist das die wichtigste Entwicklung im deutschen Internet in diesem Jahr: Weg aus dieser eigentümlichen Nische und hinaus in die weite Welt. Das Internet als Gesellschaftsbetriebssystem, wie Technikphilosoph Gunter Dueck das auf einem Vortrag auf der Re:publica 11 in diesem Jahr beschrieb: Mit dem Web können wir es schaffen, Probleme zu lösen, hierzulande und international. Welthungerproblem, Bevölkerungswachstum, Klimaveränderung, Naturzerstörung – das sind die Herausforderungen der Zukunft. Und der Technik fällt hier eine Hauptrolle zu. Diese Erkenntnis hat sich langsam durchgesetzt in diesem an Höhepunkten armen und doch so wichtigen Jahr 2011. Ich bin gespannt, was als nächstes kommt!
(Jürgen Vielmeier)