Paris ist nicht gerade als Internethauptstadt bekannt. Vielleicht symptomatisch, dass mein Taxifahrer noch nie etwas von einer „Le Web“ gehört hatte und mich am falschen Gebäude aussteigen lässt. Das hier solle ein Konferenzzentrum sein, frage ich skeptisch? „Der Hintereingang!“, kommt es schnippisch zurück. Es nicht besser wissend, schlage ich mich über einen Parkplatz in ein flaches Bürogebäude im Stile einer Berufsschule der 70er Jahre, wo sogleich aus einer Menschentraube heraus eine adrette, junge Frau auf mich zusteuert. Ob ich zum Casting da sei, fragt sie. Stephane Bernard (so zumindest klang der Name) warte schon.
Im Nachhinein bereue ich es ein wenig, dass ich abgewunken und die Dame statt dessen nach dem Weg gefragt habe. Wäre mit wenig Glück ein interessanterer Nachmittag geworden. Aber ich wollte zur Le Web 2011, Europas größter Internetkonferenz, wo Google-Chairman Eric Schmidt nur wenige Minuten später etwas zur Zukunft des Internets sagen würde. Und nicht nur er: Die Le Web ist das El Dorado für Startups und Internetunternehmen. Viele stellten neue Produkte vor, andere einfach sich selbst und wieder andere heben ab. Tag 1 auf einem Kongress im Norden von Paris, bei dem sich die Webgründer zu einer Art Klassentreffen einfinden – und dabei hoffen, dass irgendwer die Probleme der Welt da draußen schon lösen wird.
Hier keine Konferenz, nur ein Casting
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„Es ist schwerer, eine Revolution zu Ende zu bringen“
Als ich zwei Regenschauer später leicht durchnässt endlich den Plenarsaal der Konferenz erreiche, wird Eric Schmidt bereits von Veranstalter Loic Le Meur in die Mangel genommen. Woran es denn liege, dass Android noch immer hinter Apples iOS hinterher hinke. „Ist das so?“, fragt Schmidt und guckt dabei verblüfft. „Tatsächlich hat Android iOS längst überholt. Es ist moderner, es hat höhere Marktanteile, es gibt mehr Geräte damit, es ist konstenlos.“ In den nächsten sechs Monaten werde es sich zu Gunsten Androids ändern, dass Entwickler zunächst Apps für iOS programmierten.
Schmidt klingt auf dem Podium weniger wie ein Technik-Guru. Seit seinem Rückzug vom Chefposten bei Google wird seine Rolle zunehmend politisch. Er betreibt Lobbyarbeit bei Regierungen der ganzen Welt – für das Internet. Und so schlägt er den Bogen von Android („Die Erwartungen daran sind ins Astronomische gestiegen“) hin zur Politik: „Es ist einfacher, eine Revolution zu starten, als sie auch zu Ende zu bringen.“ An die Despoten und Internetkontrolleure dieser Welt richtet er die Weisheit: „Zerbrecht den Spiegel nicht, wenn er euch nicht gefällt. Und was immer ihr auch tut: Schaltet nicht das Internet ab.“
Zweites Silicon Valley gewünscht
Schmidt lobt Apples iOS und sagt, er wünsche sich, in Europa würde ein zweites Silicon Valley entstehen: „Es ist immer gut, Konkurrenz zu haben.“ Wo diese Szene entstehen solle, ließ er offen. Zwei US-Amerikaner, mit denen ich heute unabhängig voneinander kurz sprach, bekamen leuchtende Augen, als das Thema Berlin fällt. Die Spree-Metropole gilt als der Zukunftsstandort für die Internetindustrie. Schade, dass man diese Chance in der deutschen Politik noch nicht erkannt hat.
Aus Berlin kommt zum Beispiel auch der Social-Games-Anbieter Wooga. Aber bei allem Respekt, den ich für dieses Unternehmen habe: Bei Gründer Jens Begemanns Vortrag sprang der Funken diesmal leider nicht über. Dass man die neue mobile Version von Diamond Dash separat über den iTunes App Store herunterladen kann und darüber trotzdem mit seinen Freunden via Facebook verbunden bleibt, sorgte im Publikum für Schulterzucken. Mag es vorher noch nicht gegeben haben, aber wie der große Wurf schien diese technische Lösung den Anwesenden nicht.
Achselzucken, Stirnrunzeln: Echte Visionäre gesucht
Kaum besser erging es allerdings auch vielen anderen Sprechern. Axel Dauchez, Chef des Musikstreaming-Dienstes Deezer, zeichnete Moderatorin Becky Anderson von CNN ein ums andere Mal ein Runzeln auf die Stirn. Dauchez schaffte es nicht, sie vom Sinn der Taktik zu überzeugen, Deezer bis Mitte 2012 in fast allen Ländern der Welt zu starten – außer den USA. Seltsam blass blieb später das Gespräch zwischen LinkedIn-Mitgründer Allen Blue und Ex-TechCrunch-Redakteur MG Siegler über die Zukunft des Networkings. Siegler schaffte es nicht, Blues smarte PR-Fassade zu knacken und Kritik an LinkedIns Benachrichtigungs-Lawine auf ihn einprasseln zu lassen. Am Ende war der erste Tag der Le Web denn doch zum Teil nur eine schnöde Werbeveranstaltung für Firmen wie Instagram, Foursquare oder Milk.
Eine schöne, wenn auch dekadente Abwechslung bot George Whitesides, Chef von Virgin Galactic. Zusammen mit Richard Branson, dem Chef der Konzerngruppe Virgin, stellte er das Konzept privater Flüge ins All vor. Mehr als 100 Millionen US-Dollar will Branson dafür ausgeben. Gibt es auf der Welt nichts Anderes, worin man eine solche Summe investieren könnte? Whitesides selbst ist sich der Tatsache durchaus bewusst, aber er findet trotzdem eine Berechtigung für sein Unternehmen: „Wir haben den Klimawandel, wir haben das Welthungerproblem, wir haben die Finanzkrise und Megastädte. Aber wir brauchen Visionäre. Menschen, die sich überlegen, wie sie derartige Probleme lösen können und andere mitreißen.“
Uber greift an, Foursquare erhöht Wasserstand
Das schafften die Protagonisten der Le Web am ersten Tag bei mir leider nicht. Okay, Foursquare und Instagram verzeichnen jetzt je 15 Millionen Nutzer, Evernote 20 Millionen. Taxi-Dienst Uber, ein Konkurrenz des deutschen MyTaxi, erhält eine Kapitalspritze in Höhe von 32 Millionen Dollar und greift künftig in Europa an. Auf der Le Web bietet man kostenlose Fahrten von und zum Flughafen an – die ich nicht nutzen konnte, weil die App schon bei der Registrierung die Sicherheitsnummer meiner Kreditkarte nicht akzeptieren wollte. Ein toller Start.
Gesprächsthema des Tages aus irgend einem Grund: Die App Flipboard kommt auf das iPhone. Visionäre, wie Whitesides sie sucht, findet man hier erst einmal nicht. Aber vielleicht muss ich Eric Schmidt einmal zustimmen: Die Erwartungshaltung der Webnutzer ist inzwischen extrem hoch. Gelöst werden derzeit viele Dinge erst einmal im Kleinen. Es scheint ein Jahr des Übergangs zu sein: Weg vom Spielplatz, raus auf die Straße, aber zwischendurch noch einmal Luft holen. Das ist die Le Web 2011. Das weiß ich und doch wundere ich mich: Einem Casting beizuwohnen, und sei es nur als Zuschauer, wäre zumindest heute die spannendere Veranstaltung gewesen.
(Jürgen Vielmeier)