Thaddeus Albrecht saß im Schaukelstuhl auf seiner Veranda und schnippte mit dem Finger durch das Neueste vom Tage. Er überflog die Meldungen im Wirtschaftsteil, als er plötzlich inne hielt. „Insolvenz“ stand dort geschrieben, und als Albrecht den kurzen Text zu Ende gelesen hatte, lehnte er sich zurück. Er zog am Strohhalm seines Longdrinks und versuchte sich daran zu erinnern, wie alles angefangen hatte, damals im Jahr 2010.
Albrecht war gerade 55 geworden und damit der Älteste in seiner Firma, der Ferros AG. Er hatte viele Leute gehen und kommen sehen. Seit ein neuer Investor die Firma übernommen hatte, mehr Leute gehen und immer Jüngere kommen. Viele blieben nur für die Dauer ihres sechsmonatigen Praktikums und waren in ihrer Unerfahrenheit auf die Hilfe der Älteren angewiesen. Ferros schien das aber nicht zu interessieren, und so wurde Albrecht eines Tages ins Zimmer des neuen Geschäftsvorstands Bernard Matthew gerufen.
Mache man sich nichts vor, hatte dieser gesagt. Ferros stehe vor strukturellen Umwälzungen. Dringend notwendige, um auf den sich rasant verändernden globalen Märkten überhaupt noch eine Chance zu haben. Und seine Investoren, ja nun, die würden ungeduldig. Wirtschaftskrise hin oder her: 26 Prozent Rendite seien das Ziel. Ob das machbar sei, hatte man ihn, Matthew, auf der Hauptversammlung gefragt. Ja sicher, habe er geantwortet. Er habe das noch immer geschafft. Luxuszuwendungen wie Kantinenzuschuss, kostenlose Parkplätze und Urlaubsgeld – wo sonst gäb’s die schon – müssten dann nun einmal gestrichen werden. Weil die Zeiten hart seien, müsse man wohl bald Kurzarbeit anmelden und sparen, wo es nur ginge.
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Zu alt und nicht mehr gefragt
Albrecht hatte keine Wahl und unterschrieb den Auflösungsvertrag, den ihn Matthew vorlegte. Ein halbes Jahresgehalt gab es als Abfindung, und einen Handschlag von Matthew zum Abschied. Die Ferros AG entließ in jenen Monaten ein Drittel ihrer Beschäftigten und ersetzte viele Stellen durch Zeitarbeiter. Vor allem ältere Mitarbeiter traf es. „Tut uns ja Leid“, argumentierte Matthew vor der Lokalpresse. „Aber Menschen über 50 halten im global geforderten Arbeitstempo nicht mehr Schritt.“ Manche Projekte würden halt 14 Stunden Arbeit am Tag verlangen und dazu wären gerade Ältere nicht mehr in der Lage.
Für Thaddeus Albrecht bedeutete das den üblichen Spießrutenlauf durch die Instanzen. Nach einem Jahr vergeblicher Suche war er müde geworden. Mehr als 150 Bewerbungen hatte er verfasst, und wenn überhaupt Antworten kamen, dann lobte man in der Regel seine Überqualifikation. Ein halbes Jahr lang würde das Arbeitslosengeld noch reichen, dann käme Hartz IV. Albrechts Frau verdiente mit ihrer halben Stelle als Verkäuferin in einem Supermarkt inzwischen besser als er. Sein Sohn empfahl ihm, sich über das Internet zu bewerben. „Puh, Internet“, dachte Albrecht. Das war doch dieses Ding mit den Viren und Hackern. Zu kompliziert, und überhaupt: zu gefährlich.
Albrecht fühlte sich aufs Abstellgleis geschoben. In diese Gesellschaft passte er nicht, das war ihm jetzt klar. Er fühlte sich alt und nutzlos, hörte auf, Bewerbungen zu schreiben und setzte sich lieber in seinen Lehnstuhl, las Groschenromane, ließ dabei den Fernseher laufen und hoffte darauf, irgendwann einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.
Es klingelt
Da klingelte es eines Morgens an der Tür, durchdringend, immer wieder. Albrecht fluchte, erhob sich schließlich doch und schlurfte zur Tür. Der Besucher war bereits gegangen, aber hatte ein Päckchen dagelassen. Ich hab doch nichts bestellt, dachte Albrecht. TESTGERÄT stand in großen Lettern auf der Box, ein Absender nicht.
Zwei Tage lang ließ Albrecht das Päckchen ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch liegen. Dann gewann doch die Neugier und er riss den Karton auf. Eine etwa 30 Zentimeter lange Glasscheibe lag darin. Weiter nichts. Nur ein kleiner Zettel: „… haben wir Ihre Adresse von der Agentur für Arbeit … würden wir uns freuen, wenn Sie unsere Neuentwicklung ausprobieren. Fahren Sie mit dem Zeigefinger über die Scheibe und lassen Sie sich überraschen!“
Es dauerte weitere zwei Tage, bis Albrechts Neugier ihn endlich dazu brachte, die Scheibe in die Hand zu nehmen. Mit dem Finger fuhr er über das Glas, wie der Zettel es gefordert hatte. Albrecht ließ sie vor Erstaunen fast fallen: In der Scheibe erschienen bunte Grafiken und Bildchen. Auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass es Nachrichten waren. Das aktuelle Wetter seines Wohnorts wurde in einem Feld angezeigt, ein weckerartiges Symbol zeigte Datum und Uhrzeit an, ein Feld listete Lokalnachrichten als Schlagzeilen auf. „Und jetzt?“, dachte Albrecht. In großer Schrift stand auf der Scheibe, die offenbar eine Art Touchscreen war: Tippen Sie auf ein Feld, um es zu vergrößern, ziehen Sie es mit einem Finger, um es zu verschieben.
Nichts mehr als ein Stück Glas
Tippte Albrecht auf ein Feld, poppte es auf, tippte er noch einmal darauf, ging es wieder zu. Das machte Spaß, dachte er. Ein Feld sah wie eine Art Textverarbeitung aus, die Albrecht noch von der Arbeit kannte. Tippte er darauf, öffnete sich tatsächlich ein MS-Word-ähnliches Programm und eine Tastatur wurden eingeblendet. Der Hauch eines Lächelns ging über Albrechts Gesicht.
Als Albrechts Frau am späten Nachmittag von der Arbeit wiederkam, saß ihr Mann wie ein kleiner Junge auf dem Wohnzimmerstuhl und tippte wie verrückt auf einer Glasscheibe herum. Als er sie bemerkte, strahlte er und hielt sie ihr vor Freude entgegen. Vor lauter Staunen ließ seine Frau die Einkaufstasche fallen. „Thaddeus, was um Himmels Willen…?“. Sie stand ungläubig da. So fröhlich hatte sie ihren Mann seit Jahren nicht gesehen.
Von da an verbrachte Albrecht ganze Tage mit der Scheibe. Er las die Nachrichten, spielte Spiele und musizierte auf virtuellen Instrumenten, fand ein Programm, das ihn mit anderen Leuten vernetzte. Mit anderen Menschen über 50 kam er dort in Kontakt. Menschen, denen es ähnlich ging wie ihm. Sie fühlten sich nutzlos, zu nichts mehr gebraucht und hätten doch so gerne noch gearbeitet. Ob sie auch so eine Glasscheibe in der Post gehabt hätten, fragte Albrecht herum. Einige bejahten. Das sei ein nettes Geschenk gewesen. Aber was das ganze bloß sollte, und ob der edle Spender es wiederhaben wolle?
Albrecht war das egal. Es begann, seinen kompletten Tagesablauf mit der Wunderscheibe zu organisieren. Er benutzte den integrierten Kalender, verfasste Briefe und verschickte sie sogleich elektronisch per Knopfdruck über eine Adresse, die die Scheibe für ihn herausgesucht hatte. Die Suchmaschine des Geräts half ihm, sich über Wirtschaft und das Finanzsystem zu informieren. Mit neuen Freunden, die er im Chat kennenlernte, blieb er in Kontakt. Seine Frau freute sich, dass er von Tag zu Tag immer mehr aufblühte. „Ich hab da eine Idee“, sagte er eines Morgens zu ihr.
Ein Jahr später lachte niemand mehr
„Nun“, sagte der Bankangestellte und musterte ihn kurz. „Nun“, wiederholte er, nervös mit seinem Kugelschreiber spielend. „Dass Sie Erfahrung haben, will ich angesichts Ihres Alters gar nicht bestreiten. Was aber Ihre Kreditwürdigkeit betrifft. Nun ja…“ Es war das zehnte Gespräch, das Albrecht wegen dieser Idee führte, einer Geschäftsidee. Alle Banken, bei denen er sich bisher vorstellte, hatten sie nicht finanzieren wollen. Dieses war die letzte, bei der er es noch versuchen konnte. Er hatte extra seinen ältesten Sohn mitgenommen, um überzeugender zu wirken. „Schauen Sie“, unterbrach Albrecht den Sachbearbeiter. „Alles, was ich von Ihnen möchte, ist eine Anschubfinanzierung. Der Staat zahlt die Hälfte, meine Wohnung dient Ihnen als Sicherheit und in einem Jahr beginnt schon die Tilgung des Kredits. Es geht nur um ein paar Tausend.“
Der Sachbearbeiter verdrehte die Augen, wiegte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. „Also gut. Was soll’s. Versuchen Sie’s!“ Er stand auf und schüttelte Albrecht die Hand. Endlich. Albrecht gründete eine Agentur, die Menschen über 50 als Berater in Unternehmen schickt. Als sein erstes Büro diente – wie klassisch – die Garage seiner Wohnung. Ein Interview mit ihm erschien in der lokalen Tageszeitung. Ein ganzer Reigen von Leserbriefen kommentierte die Idee sarkastisch.
Als Albrechts Agentur fünf Monate später 40 Fachkräfte vermittelte, lachte niemand mehr. Die freien Kräfte waren auf einmal gefragt und erhielten ein stattliches Gehalt. Bei den Firmen der Region sprach sich die Kompetenz der Fachleute wie ein Lauffeuer herum. Ganz neue Käuferschichten ließen sich damit erschließen, warb Albrechts Agentur. Es war sonderbar, wunderte er sich. Sobald er die Mitarbeiter „Consultants“ nannte, waren die Kunden plötzlich bereit, tausend Euro und mehr für Ihre Arbeit am Tag zu bezahlen.
Die Agentur expandierte bundesweit. Über Wochenendseminare schulte Albrechts Firma neues Personal für die wichtigsten Aufgaben. Dann schwärmte die Rentnerarmee aus. Sie unterwiesen die Forschungs- und Entwicklungs-Abteilungen darin, wie man Produkte kundenfreundlicher und barrierefrei erstellen konnte. Das Personal war hochmotiviert und erarbeitete sich schnell einen vortrefflichen Ruf. Albrecht brauchte keine Anfrage eines möglichen Kunden abzulehen – der Pool neuer möglicher Consultants war praktisch unerschöpflich. Nur wenn Unternehmen anfragten, die Albrecht seinerzeit als „überqualifiziert“ abgelehnt hatten, hatte er plötzlich unglaublich viel zu tun und war auf Monate hin ausgebucht.
Senior Consultants überall
Fünf Jahre später war aus der kleinen Garagenfirma ein Großunternehmen geworden. Solide geführt, aus eigener Hand und Marktführer in Europa. Zehn Jahre später war Albrechts Unternehmen Weltmarktführer, 10.000 gut bezahlte Senior Consultants (im wahrsten Sinne des Wortes) arbeiteten für ihn alleine in Deutschland. Und auch in diesem Land hatte sich etwas geändert. Technik war nicht länger etwas für verspielte Männer zwischen 20 und 40, sondern für jedermann. Alte Menschen saßen surfend im Café und posteten Statusupdates, organisierten Barcamps und waren vielfach die ersten in der Schlange, wenn ein neues Hightechprodukt in die Regale kam. Albrecht selbst hätte genug Geld verdienen können, um mehrfacher Multimillionär zu werden. Er begnügte sich mit einem kleinen Landhaus in Italien, das er bald mit seiner Frau bezog.
Wer ihm damals die Glasplatte zugeschickt hatte, weiß Albrecht bis heute nicht. Dass derjenige die Zeichen der Zeit erkannt hatte, scheint gewiss. Dass er damit ahnte, welche Revolution er heraufbeschwören würde, bestimmt nicht.
Fünfzehn Jahre nach der sanften Revolution, die er selbst ausgelöst hatte, übergab Albrecht seine Firma – ganz klassisch – seinem ältesten Sohn. Für ihn war es jetzt, mit 70, dann wirklich genug der harten Arbeit. Er würde der Technik weiterhin aufgeschlossen gegenüber stehen, so viel war klar. So wie für die Weiterentwicklung der Glasplatte von damals, die er nun in seinem Landhaus in Italien benutze, um sich auf dem Laufenden zu halten: ein kleines Gerät, das Neuigkeiten auf jede beliebige Oberfläche projiziert. Es tastet die Gesten des Anwenders ab und lässt sich gänzlich freihändig bedienen.
Die Wirtschaftsnachrichten interessierten Albrecht stets am meisten und so las er an diesem Morgen die Meldung „Insolvenz: Ferros AG wird zerschlagen“. Weiter im Text hieß es: „Die Firma klagte schon länger über ausbleibende Verkaufszahlen. Zuletzt waren Umsatz und Vorsteuergewinn drastisch eingebrochen. Analysten gehen davon aus, dass Ferros den boomenden Markt der kaufkräftigen, älteren Kunden zu lange ignoriert hat.“
Ein Lächeln ging über Albrechts Gesicht. Manchmal schien es ihm, als sei das alles nur ein Traum gewesen.
(Jürgen Vielmeier / Bilder: Senior Expert Service)