Besser als der „Guardian“ hätte ich es auch nicht ausdrücken können: Google plant ein „Archiv der Gegenwart„. Seit bekannt wurde, dass die Suchmaschine mit Twitter und Facebook einen für alle Seiten lukrativen Vertrag abgeschlossen hat, buzzt es im Netz. „Alles wird sich verändern“, heißt es. Nein, nicht nur Print sei out, nun stehen auch die Online-Medien auf der Abschussliste, die sich noch immer anmaßen, ihre Artikel von gestern oder von vor ein paar Stunden auf der Startseite zu publizieren. Gähn, langweilig, weggeklickt, weitermachen…
Der Iran hat eine Menge dazu beigetragen, dass wir dem Echtzeitnetz heute soviel Bedeutung beimessen. Plötzlich mussten wir nicht mehr auf den Gong der allabendlichen „Tagesschau“ warten, um informiert zu sein, um die Bilder und Videos von prügelnden Polizisten zu sehen. Selbst die öffentlich-rechtliche Redaktion in Hamburg verstand irgendwann, dass es keinen Sinn mehr macht, den Korrespondenten gemeinsam mit dem trägen Kameramann vom Hotelzimmer auf die Straßen zu schicken und ihn aufwändig im Flaschen- und Steine-Regen moderieren zu lassen (später, als Ahmadinedschad die Journalisten aus dem Land warf, war das ja auch gar nicht mehr möglich): „Quelle Youtube“, reichte da völlig aus. Wir waren mehr als Zuschauer, wir waren dabei, wir sympathisierten uns, wir empörten uns – und das alles live und in Farbe.
Twitter hat eine große Rolle in der Iran-Krise gespielt und bewiesen, dass es durchaus ein Medium der Freiheit sein kann. Tweets durchschlugen die Zensurbarrieren, waren ungefiltert und authentisch. Es war wichtig und richtig, dass Biz Stone und seine Kollegen damals die Wartungsarbeiten an der Plattform um einige Zeit verschoben, damit der Fluss dieser Informationen nicht zum Erliegen kam. Die Frage, die sich nachträglich jedoch stellt, lautet: Was hat es gebracht? Soweit ich weiß, wird im Iran ungebrochen in den Wissenschaften Uran-Anreicherung und Unterdrückung weiter experimentiert. Hinterlässt Realtime keinen bleibenden Eindruck?
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Information-Overkill
Google hat das Echtzeitnetz in der Suche verankert, zunächst in den Staaten, seit Ende vergangener Woche auch bei uns in Deutschland. Dass manche nun daraufhin sagen, „Das Netz wird live!“, ist natürlich quatsch – es war schon immer ein Echtzeitnetz, doch nun wird es auch als solches erstmals sichtbar. Heute lesen wir allerdings weniger von Straßenkämpfen und Flugzeugabstürzen, sondern eher von 3D-Filmen und Waschmittelqualitäten in den Statusmeldungen von Twitter und Facebook, die Google unter dem Sammelbegriff „Updates“ präsentiert. Angezeigt werden Meldungen und Meinungen zu allen möglichen Suchbegriffen – und zwar in dem Moment, in dem sie verfasst wurden. Vielleicht bietet dies einen ungeheuren Mehrwert für die Suche, nicht zuletzt werden auf diese Weise auch viele Realtime-Noobs erstmals Kontakt mit den diversen sozialen Medien bekommen und früher oder später auch auf den Zug aufspringen. Das Stimmenmeer könnte ganze Kontinente überspülen, doch was macht das schon aus: die sind eh von gestern!
Der Hunger nach Information war schon immer größer, als der nach Interpretation. Das zeigt sich auch darin, dass Nachrichtenseiten immer seltener angesteuert werden, um sich über die Hintergründe von Meldungen und ihre Einordnung zu informieren. Schlagzeile und Teaser – das muss reichen, immerhin wird der Kontext von Meldungen zusehends dynamischer: Rüttgers verkauft wenige Wochen vor der NRW-Wahl teure Vier-Augen-Gespräche an Wirtschaftsbosse. Wen interessiert da noch das Wahlprogramm? Tweets kommen uns sehr gelegen, weil uns die Einordnung des jeweiligen Sachverhalts entweder schon bekannt ist, sie uns nicht interessiert oder schlichtweg keine Zeit da ist, um Meldungen bis auf ihre Wurzeln zu verfolgen. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle fünf Jahre, schon bald werden wir wohl im Stundenbereich rechnen müssen und deshalb ist auch diese Art der unverbindlichen Kurzangebundenheit gut zu verstehen.
Von Nachrichten und Produkten
Der Realtime-Ticker läuft heiß. Was wir dort aber geboten bekommen, sind stets Einzelmeinungen. Ich will erst später auf ihre Authentizität eingehen, jetzt soll er erst einmal darum gehen, was sie eigentlich wert sind oder sein könnten. Vor einiger Zeit hatte eine amerikanische Online-Agentur unter Zuhilfenahme von Eye-Tracking eine kleine Studie zum Echtzeitnetz durchgeführt (Basic Thinking berichtete). Das Ergebnis lautete, dass drei von vier produktinteressierten Nutzern die Tweet-Resultate außer Acht ließen. Warum? Nun, fragen wir uns einmal selbst: Wenn ich 150 Euro für einen neuen Rasierer ausgeben möchte, interessiert mich die Meinung von BennyCGN eher peripher, wenn ich bedenke, dass ich ein demokratisches Gutachten vieler Stimmen auf Amazon bekommen kann. Wir verlassen uns lieber auf gebündelte Rezensionen, die sich in einer Werteskala von eins bis fünf Sternen ausdrücken lassen, anstatt einer Einzelmeinung zu vertrauen. Oder meinetwegen drei Meinungen.
Wenn ich mich nicht für Produkte, sondern für Nachrichten interessiere, verhält es sich mit dieser Art der Geringschätzung beinahe ähnlich. Die News-Twitterer haben es geschafft, innerhalb kürzester Zeit ein redundantes Meta-Web zu etablieren, das gleich hundertfach Kurz-URLs zu ein und demselben Artikel bereithält. Gebe ich den Namen einer Partei, vielleicht sogar noch den Namen eines Funktionärs ein, bekomme ich in der Update-Rubrik also dasselbe geboten, als würde ich den Schritt überspringen und einfach zur News-Übersichtsseite wechseln.
Das heißt nicht, dass Twitter doof oder unnötig ist. Das heißt nur, dass der Mehrwert als Such-Integration für uns Endanwender eher geringer Natur ist. Wer sich direkt auf der Plattform Twitter bewegt, folgt Nutzern und wird verfolgt. Der Stellenwert dieser Tweets ist ungleich höher: Den Peter kenne ich seit Jahren und der hat sich gerade einen neuen Rasierer gekauft, den er total toll findet. „Ist er wirklich gut?“, frage ich ihn. „Ja, und hier ein Link, wo du ihn 50 Prozent günstiger bekommst.“ Ebenso praktisch funktioniert Twitter auch als Nachrichtenkanal, weil ich von Menschen, denen ich aus bestimmten Gründen folge, erst auf News gestoßen werde, die für mich wichtig sein könnten und die ich – nur mit dem Google-Suchschlitz konfrontiert – nie gefunden hätte. Google entreißt Twitter sämtliche sozialen Aspekte.
Steuerung der Suchergebnisse
Ein weiteres Problem besteht in der Steuerung der Suchergebnisse. Die Hierarchie der Relevanz wird im klassischen Netz nach PageRank und Credibility gestaltet. Dabei handelt es sich um halbwegs verlässliche Parameter (lassen wir das SEO-Übel außen vor), um bei einer Anfrage auch vernünftige Resultate zu erzielen. Tweets werden derzeit noch nach Aktualität gerankt, das bedeutet, dass Statusmeldungen höher stehen, je neuer sie sind. Über Relevanz sagt das erst einmal gar nichts aus, im Zweifelsfall muss ich 14 Tage zurück gehen, um einen Tweet zu finden, der zu meiner Suchanfrage passt. Google arbeitet derzeit an einem gescheiten Rankingverfahren, nach ersten Informationen spielt dabei nicht zwangsläufig die Zahl der Follower eine Rolle, sondern auch, wie der Ruf dieser Follower ausgeprägt ist. Erst hieraus ergibt sich ein messbarer Indikator für die Autorenqualität.
Da es schon in der Experimentierphase mit dem neuen System massive Spam-Probleme gab, wird der Hashtag (#) als neuer Hinweis für Unseriosität interpretiert – man sollte künftig also sparsam damit umgehen, wenn man Interesse daran hat, von möglichst vielen Google-Nutzern gelesen zu werden. Mehr wird die Suchmaschine uns dazu nicht verraten. Ist dieses Ranking fair? Das wird sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Letzen Endes wird es so sein, dass Google auch im Echtzeitnetz die Filterhoheit zugesprochen bekommt.
Wer sich freuen darf…
Wenn ich die letzten Absätze noch einmal überfliege, sehe ich ein, dass ich ein wenig an „Thumbs Up“-Komplimenten für die neue Funktion gespart habe. Denn natürlich gibt es Profiteure der neuen Entwicklung – wie erwähnt, zählen wohl die meisten Privatnutzer nur indirekt dazu. Die großen Gewinner lauten Unternehmen und Google. Nico Zorn von Saphiron, den ich einmal auf der OMD traf und hiermit ganz nett grüße, hat eine Präsentation zum Thema „Real-Time-Branding“ (Slideshare) gehalten. Hier lernen wir unter anderem, dass die Twitter-Suchfunktion das perfekte Mittel für Social Monitoring und Customer-Support ist. Auch in der Online-Werbung spielt das Echtzeitnetz schon in kurzer Zeit eine große Rolle. Ich habe einen neuen Müsliriegel auf den Markt geworfen: „Wie schmeckt er den Verbrauchern? Mehr Schokolade? Atemnot aufgrund der Nussallergie? Wird korrigiert: Und hier reagieren wir mit transparenter Aufklärung und einem Gewinnspiel.“ Ich habe schon in der Vergangenheit darüber geschrieben, dass Unternehmen – unabhängig, ob sie aktiv Social Media betreiben oder nicht – im sozialen Netz vertreten sind. Die Kunden sprechen über ihre Produkte, den Service, ihre Erfahrungen, machen sich ihrer Freude oder ihrem Frust Platz. Die Wirtschaft täte gut daran, die Twitter-Integration dazu zu nutzen, um in ihren Presse- und Support-Stellen endlich ein wenig Platz für Twitterer einzurichten, die in der Lage sind, ihren Arbeitgeber gescheit und ehrlich zu repräsentieren.
Bleibt aber noch ein Profiteur übrig: Google natürlich. Die Suchmaschine hat sich den Deal mit Twitter einiges kosten lassen, schon im vergangenen Jahr konnte das kleine Startup aus Kalifornien nur aufgrund des Vertrages (und auch Dank Bing) schwarze Zahlen schreiben. Investitionen müssen sich aber irgendwann auszahlen, weshalb die 140-Zeichen-Meldungen schon bald ordentlich vermarktet werden. Kontextbasierte Werbung neben den Tweets wird über kurz oder lang kommen, die Millionen von Twitter-Nutzern werden auch nicht so einen Aufstand machen, wie es einige Vertreter der seriösen Presse in der Vergangenheit immer wieder taten. Wenn ich nach Gadgets für – oder besser gegen – Gesichtsbehaarung in der Update-Rubrik suche, werde ich dementsprechende Kaufempfehlungen erhalten. Auch in Deutschland.
Zusätzlich bastelt Google auch an der geo-basierten Ausrichtung der Tweets. Was die Suchmaschine im klassischen Netz nicht geschafft hat (oder es aber nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterließ), kann im Realtime-Web ein neuer Boom werden. Wer sich bald via Twitter über die beste Bäckerei in seiner Nachbarschaft erkundigt, wird vielleicht keine Antwort von seinen Followern erhalten. Dann sollte er aber schleunigst die neue Update-Rubrik aufsuchen, denn AdWords weiß bestimmt eine Antwort darauf. Sobald sich die Bäckerei um die Ecke dazu entschlossen hat, an dem Programm teilzunehmen.
(André Vatter)