Die Idee ist nicht neu, schon 2006 hatten Vertreter der italienischen und brasilianischen Regierungen der Weltgemeinschaft den Vorschlag unterbreitet, eine globale Verfassung für das Internet zu etablieren. „Wir müssen daran denken, dass die Onlinewelt heute der größte öffentliche Ort in der Geschichte der Menschheit ist“, argumentierte der damalige EU-Vorsitzende der Artikel-29-Datenschutzergruppe vor dem Internet Governance Forum. Ein solches verbindliches Regelwerk sei „längst überfällig“. Wie so oft blieb es bei großen Reden, gegenseitigen Absichtsbekundungen und kalten Remouladen-Häppchen beim Repräsentantenball.
Diese Woche, mehr als drei Jahre später, wurde der Gedanke erstmals wieder aufgegriffen. Der stellvertretende Vorsitzende der schwedischen Piratenpartei, Christian Engström, ist der erste seiner Partei, der es in das EU-Parlament geschafft hat. Dort wurde vor zwei Wochen abschließend über die Neuregelung des europäischen Telekommunikationsmarktes debattiert, die in erster Linie die Rechte der Verbraucher stärken sollen. Jetzt, da das Gesetzpaket verabschiedet wurde, kann der nächste Schritt kommen, so Engström. Der Schwede plant die „Bill of Rights“ für das Internet, die sich auf drei Grundpfeiler stützen soll:
1. Verankerung der Menschenrechte: Inklusive der Persönlichkeitsrechte und der Informationsfreiheit.
2. Bekennung zur Netzneutralität: Weder Inhalte noch Zugangsarten dürfen auf irgendeine Weise behindert werden.
3. Im Gegenzug für die Netzneutralität: Netzanbieter sind nicht verantwortlich für die Inhalte der Nutzer.
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Engström will die Internet-Verfassung nicht alleine, sondern im „Schwarm“ erarbeiten. Dazu hat er alle Interessierten aufgerufen, Kommentare, Vorschläge und Fragen über seine Website einzureichen. Dem TorrentFreak verriet er vor wenigen Tagen ein wenig mehr über die Hintergründe seiner Absichten: „Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, dass viele Politiker aktiv unsere Bürgerrechte einschränken wollen. Sie haben nur nicht verstanden, dass das Internet ein wichtiger Teil der Gesellschaft geworden ist, wo auch fundamentale Rechte gelten sollten.“ Einige Regierungen hielten das Netz für eine Sache, die man wie einem Spielzeug Kindern wegnehmen könne, wenn sie unartig waren. „Es ist unsere Aufgabe ihnen zu erklären, dass dies kein akzeptabler Umgang mit dem Netz ist.“ Ich möchte im Folgenden mal ein paar Gedanken dazu beisteuern, da ich tatsächlich der Meinung bin, dass ein solches Vorhaben keine bloße Utopie, sondern mittlerweile eine Notwendigkeit geworden ist.
Politiker sind nicht böse – aber oft blöd
Die meisten Politiker haben nicht den Hauch einer Ahnung davon, wie ihre Entscheidungen, das Netz beeinflussen können. Der Ex-Innenminister hätte kein Problem damit gehabt, einzelne Seiten zu sperren oder aber Provider gewähren zu lassen, den Zugang zu einzelnen Diensten aus wirtschaftlichen Interessen (Traffic ist nun einmal teuer) einzuschränken. Aus dem einfachen Grund, da es ihn nicht betrifft. Wenn überhaupt, erlaubt es ihm sein digitaler Kompetenzhorizont gerade einmal, E-Mails abzufragen und eine Suche bei Google zu starten. Das war es, der Rest kommt ausgedruckt in großen Leitz-Ordnern auf den Schreibtisch. „Herr Innenminister, stellen Sie sich vor, dass die Auffahrt zu Ihrem Anwesen um fünf Kilometer verlängert wird und Sie für diesen Weg nicht auf die Dienstlimousine zurückgreifen dürfen. Hier ist ein Dreirad.“ Dies wäre eine adäquate Übersetzung der letztgenannten Maßnahme.
Doch solange er nicht im Netz lebt und nicht nachvollzieht, dass ein nicht geringer Teil der Gesellschaft es hingegen tagtäglich privat und beruflich nutzt, juckt es ihn kaum. Dennoch dürfen derlei Politiker Gesetze für diese Menschen auf den Weg bringen. An diesem Punkt darf man ihnen allerdings noch keine böswillige Absicht, wohl aber bestbehütete Ignoranz vorwerfen:
Das Internet ist schon lange kein Werkzeug mehr („ein Hammer!“). Es ist Schule, Zeitungsstand, Supermarkt, Messehalle, Kino, Selbsthilfegruppe, Café, Kirche, Reisebüro, Radiostation, Bank – ja, und es gibt auch einen Puff von recht ansehnlicher Größe. Hin und wieder findet der Machthaber mit Hilfe seiner akkreditierten Adjutanten den Weg in diese Gesellschaft und reißt Häuser nieder, baut eine Schnellstraße mit Mautgebühr durchs Dorfzentrum, fordert tägliche Volkszählungen und dass die Bürger zu jeder Zeit gut sichtbar ein Namensschild am Revers tragen. Ich sage: Wer heute Politik im Netz machen will, muss auch dort leben.
Sind also alle Politiker blöd, was das Internet angeht? Nein, keinesfalls. Als das Zensursula-Gesetz zur Abstimmung stand, regte sich erstmals wirklich Unmut in den Reihen der SPD, die „jungen Wilden“ machten in letzter Sekunde Rambazamba, weil sie verstanden hatten, was hier auf dem Spiel stand. Der Online-Beirat hatte einen offenen Brief an die Spitze der Sozialdemokraten formuliert, doch machte die – wie nicht anders zu erwarten war – eine wütende Geste: „Hallo?! Könntet ihr mal bitte die Klappe halten? Wir machen hier Wahlkampf!“ Das bringt mich zum nächsten Punkt.
Gefährliche Symbolpolitik
Einer der Gründe, weshalb es in diesem Land nicht voran geht, ist der Föderalismus. Die Bundestagswahl liegt schon weit hinter uns, doch außer schönen Reden und hässlichen Personalrausschmissen ist bislang nichts passiert. Für Regierungen in Deutschland gibt es keinen idealen Zeitpunkt für Reformen, immer steht die nächste Landtagswahl am Horizont. Das zwingt alle Beteiligten zu populistischem Aktionismus, kurz: Symbolpolitik. Und die ist oft gefährlicher als alles andere.
Das fing nicht erst mit der angeblichen Bekämpfung der Kinderpornographie im Internet an, die sich ja offensichtlich gerade als die Farce entpuppt, für die alle sie gehalten haben (Von der Leyen erkennt plötzlich, dass sie auch zuhören kann und die SPD leidet an Amnesie). Für seine Wählerstimmen im konservativen Lager griff Schäuble, der Zeremonienmeister des Populismus, seinerzeit tief in die Trickkiste. Es gibt bis heute kein einziges Opfer des internationalen Terrorismus in Deutschland. Doch damit die Stammtische jubeln konnten, musste Schäuble Gesetze durchdrücken, die im krassen Gegensatz zu unserer Verfassung stehen: „Ach, das Grundgesetz… da muss noch nachgebessert werden“, war seine Standardfloskel. Er drohte mit Verfassungsänderungen für den Bundestrojaner, für den Abschuss von Passagiermaschinen, für die Bekämpfung von Internetpiraterie und beim Durchdrücken des BKA-Gesetzes. Wenn sich in Karlsruhe die Richter protestierend erhoben, schnauzte er sie an: „Wer Gesetze gestalten will, sollte sich bemühen, Mitglied des Deutschen Bundestages zu werden“, knallte Schäuble dem ehemaligen Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts an den Kopf.
Das Grundgesetz vor „Verbesserungen“ schützen
Offenbar ist es so, dass der deutsche Innenminister, eigentlich der Hüter unserer Verfassung, nach Belieben mit dem Hackebeil durch unsere Grundrechte vagabundieren kann. Was nicht passt, wird passend gemacht. Dabei sollte die Verfassung eines jeden Landes als unberührbar gelten. Zudem scheint es einfacher zu sein, Restriktionen einzuarbeiten, als sie zu erweitern: Kinderrechte, Homo-Ehe, Tierschutz – auch das Recht an den eigenen Daten sind bis heute nicht im Grundgesetz verankert.
Seitdem sich das Internet im Bundestagswahlkampf als hervorragendes Wahlkampfthema etabliert hat, steht es zu befürchten, dass gerade in diesem Bereich weiter „nachgebessert“ wird – und es damit zu weiteren Einschränkungen kommt (niemand sollte naiv sein und denken, dass die Stimme eines Digital Native bei den Volksparteien großartig ins Gewicht fällt – die Wirkung der größten Petition Deutschlands ist verpufft). Am Grundgesetz herumzufummeln hat Folgen für die On- und Offlinewelt. Eine unantastbare „Bill of Rights“ für das Internet würde den Enthusiasmus bremsen und Rechte in Brüssel gesetzlich garantierten, die vor kommenden Wahlen nicht willkürlich verändert werden können. Die amtierende Regierung könnte sich damit das gefährliche Nachbessern an unserer Bundesverfassung sparen.
„Hier könnten Dinge passieren“
Das Internet ist nicht an Staatsgrenzen gebunden. Es bringt nichts, wenn für das deutsche Netz andere Regeln gelten, als für das niederländische oder britsche. Deshalb ist es nötig, Allianzen zu schmieden und den bislang kleinsten gemeinsamen Nenner ständig zu vergrößern. Je mehr mitmachen, desto besser. Die Zeit für „Die Zehn Gebote“ des Internet, wie sie der Netzhistoriker Ian Peter vor der UN für die ganze Weltgemeinschaft fordert, ist noch nicht gekommen. Man stelle sich vor, China müsse sich an die Anti-Zensur-Klausel halten! Doch warum soll Europa nicht den Anfang machen? „Ich habe das Gefühl, dass es eine Menge Parlamentarier gibt, die sich darauf verständigt haben, dass wir jetzt dieses Thema angehen sollten – und die Teil eines Sache sein wollen, die gut ist“, so Engström.
Der offene Ansatz, sich Ideen von der „Community“ einzuholen, trifft den demokratischen Gedanken, zudem bekommt damit auch endlich einmal die Kompetenz eine Stimme: Menschen, die im Netz leben. Engström: „Wenn wir einen guten Vorschlag vorbringen, ist es nicht unmöglich, dass wir eine starke politische Mehrheit darum versammeln können. Hier könnten Dinge passieren.“
(André Vatter)