4. August: Vier Monate sind vergangen, seitdem du fortgegangen bist. Ich weiß nicht, ob du versucht hast, irgendwie mit mir Kontakt aufzunehmen, aber keine einzige deiner Nachrichten hat mich erreicht. Ich hoffe, dass es dir gut geht, dort wo du jetzt bist. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer so schlimm, dass die meisten Menschen ihren Alltag Zuhause verbringen. Ich vermisse die Schule und die vielen Kinder. Auch, ob unsere Nachbarn überhaupt noch da sind, weiß ich nicht. Ich habe sie seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Die Straßen sind oft wie verwaist. Manchmal hört man Menschen schreien. Wahrscheinlich sind es Aufständische, die von der Obrigkeit verhaftet worden sind. Ich verhalte mich hier weiter ruhig und hoffe darauf, dass dich diese Nachricht erreicht. Ich bin nicht die Einzige, die ihren Mann verloren hat. Ein Schmugglerbande hat mir versprochen, dir meine Nachrichten zu übermitteln. Anscheinend weiß nur ich nicht, wo du dich gerade aufhälst. Ich denke an dich und hoffe, dass dich meine Nachricht erreicht. Bitte melde dich.
Auf der anderen Seite
14. September: Mein Geliebter, nun sind schon fünf Monate ins Land gegangen und noch immer habe ich nichts von dir gehört. Ob mein erster Brief bei dir angekommen ist, weiß ich nicht. Der Anführer dieser Bande hat mir versichert, dass er meine Nachricht persönlich bei dir abgegeben hat. Er meint, du hättest dich sehr darüber gefreut. Eine Antwort hättest du mir aber nicht mitgegeben. Zumindest ist meine Hoffnung geweckt und die Gewissheit, dass es dir wirklich gut geht. Langsam kehrt wieder Normalität in unseren Alltag ein. Es trauen sich wieder die ersten Menschen auf die Straßen. Davor gab es mehrere Wochen lang große Unruhen. Häuser wurden gestürmt und Menschen mitgenommen. Wahrscheinlich, um sie zu verhören. Einige Tage später waren die Bewohner dann wieder in ihren Häusern. Vielleicht geht diese schlimme Zeit langsam ihrem Ende zu. Denn auch die Anzahl der Polizisten ist merklich kleiner geworden. Auch ich werde versuchen, mich langsam wieder in die öffentliche Ordnung einzufügen. Ich werde dir jetzt regelmäßig schreiben – in der Hoffnung, dass du meine Nachrichten liest. Ich denke an dich.
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Es geht wieder aufwärts
1. Oktober: Die letzten Wochen waren sehr aufregend. Ich weiß zwar immer noch nicht genau, was hier vor sich geht, aber gestern gab es direkt vor unserem Haus auf der Straße einen großen Wochenmarkt. Es tummelten sich so viele Menschen auf den Straßen wie schon seit Monaten nicht mehr. Es gab frisches Gemüse, saftiges Obst und sogar Fleisch zu kaufen. Nicht nur ich konnte mich nicht mehr beherrschen und bin raus gegangen. Nicht nur mir ging es so. Unsere Nachbarin habe ich im Hausflur getroffen. Nach so langer Zeit sind wir uns dann erst einmal in die Arme gefallen. Warum es auf einmal diese Veränderungen gibt, weiß ich nicht. Im Fernsehen laufen nur die normalen Nachrichten über das Ausland – im Inland gibt es wohl noch immer nichts Neues zu berichten. Außer positiven Nachrichten selbstverständlich. Langsam schöpfe ich wieder Hoffnung. Ich weiß nicht, ob das nur ein kleines Strohfeuer ist oder ob es tatsächlich aufwärts geht. Aber heute genehmige ich mir erst einmal ein tolles Abendessen. Habe für Zwei gedeckt. Du bist zwar nicht hier, aber so fällt es mir leichter. Ich schicke dir mein Herz.
Die Hintergründe werden aufgedeckt
17. Oktober: Ich habe hier viele nette Menschen kennengelernt, die auch einen Teil ihrer Familie verloren haben. Es scheint mehr Menschen zu geben, die entweder verschwunden oder geflohen sind, als ich zunächst gedacht hatte. Jetzt habe ich auch durch das Fernsehen die Hintergründe erfahren, was in den letzten Wochen passiert ist. Offenbar hat es eine Art Revolution gegeben, durch die das gesamte System verändert worden ist. Die alten Machthaber haben durch Korruption und Missbrauch das gesamte Land in den Ruin getrieben. Zahlreiche Fabriken und Banken mussten dadurch Konkurs anmelden. Siehst du, weswegen du damals deine Arbeit verloren hast? Ich bin noch immer sehr skeptisch und halte mich bei den Gesprächen mit unseren Nachbarn und deren Bekannten zurück. Sie wissen, dass du fort bist, aber haben sonst nichts dazu gesagt. Meine Nachbarin hat mir erzählt, dass sie gute Freunde in der neuen Regierung hat. Bald würde es uns allen besser gehen. Mach dir keine Sorgen. Ich gebe auf mich acht. Und ich bin mir sicher, dir geht es auch gut. Ich glaube ganz fest daran.
Die Normalität hält wieder Einzug
31. Oktober: Du kannst nicht glauben, wo ich heute war: in der Schule. Elke hat mir eine neue Anstellung in einer Schule besorgt. Ich bin so glücklich darüber. Wie lange habe ich nicht mehr unterrichtet. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Meine neuen Kolleginnen und Kollegen haben mich mit einem Blumenstrauß überrascht und mich herzlich aufgenommen. Der Tag verging wie im Flug. Ich unterrichte zwei Grundschulklassen in Deutsch und Sachkunde. Die Schüler sind sehr lieb – sie tragen alle Uniformen und kabbeln sich deswegen auch nicht mehr wegen irgendwelcher Markenklamotten oder Ähnlichem. Insgesamt hat sich tatsächlich sehr viel verändert. Die Menschen sind friedlicher geworden und helfen sich gegenseitig viel mehr, als es noch früher der Fall war. Und weißt du was? Stromausfälle sind auch nicht mehr vorgekommen. Die neue Regierung scheint zu halten, was sie versprochen hat. Wenn es so bleibt, dann bin ich bereit, all die Schmerzen in Kauf zu nehmen. Ein dunkler Fleck bleibt und das bist natürlich du. Wenn du diese Nachrichten tatsächlich erhalten solltest: Komm zu mir zurück, ich vermisse dich.
Ich habe endlich wieder Arbeit
30. November: Heute habe ich mein erstes Gehalt bekommen und es ist mehr, als ich früher je verdient habe. Bin gleich in die Kaufhäuser und habe uns ein neues Bett gekauft. Außerdem habe ich diese wunderschöne Handtasche gefunden, die musste ich einfach haben. Meine Kolleginnen und Kollegen sind sehr zufrieden mit mir. Haben mir sogar in Aussicht gestellt, dass ich befördert werde. In so kurzer Zeit, kannst du dir das vorstellen? Habe mich hier sehr gut eingelebt und weiß kaum noch, wie es früher so war. Erinnerst du dich noch an all den Streit und den Neid? Das ist alles verschwunden. Die Menschen reden wieder miteinander und versuchen gemeinsam, die Probleme aus der Welt zu schaffen. Vorgestern wurde ein Nachbar aus unserem Hause verhaftet. Ich weiß nicht genau, was er verbrochen hat, aber mir wurde gesagt, dass er sich gegen die Regierung aufgelehnt hätte. Merkwürdiges Volk. Warum sollte man sich gegen dieses tolle Leben zur Wehr setzen? Ich war noch nie so glücklich und das meine ich ernst. Du fehlst mir noch immer aber langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob du wirklich lebst. Ich habe Gerüchte gehört, dass du bei der Flucht gestorben bist. Ob es wahr ist oder nicht, weiß ich nicht. Aber meine Hoffnung, die lebt noch immer.
Du fehlst mir zu meinem vollkommenen Glück
4. Dezember: Deine Nachricht hat mich erreicht und ich habe mich so sehr darüber gefreut, dass ich in meiner Wohnung getanzt habe. Dir geht es also gut und du hast die letzten Monate bei deiner Schwester verbracht. Also warst du gar nicht im Ausland sondern nur einige hundert Kilometer von mir entfernt. Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet? Unsere Nachbarn meinen, dass es mittlerweile sicher sei, auch als Anhänger der Vormacht wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Die Staatsmächte haben eine General-Amnesie ausgesprochen und auch unser Nachbar, der vor wenigen Wochen noch verhaftet wurde, wohnt wieder in seiner Wohnung im ersten Stockwerk. Habe ihn gestern getroffen und er war sehr nett zu mir und hat mich gleich zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Ich habe niemandem verraten wo du bist. Komm zu mir zurück, wenn du magst. Jetzt, wo ich weiß, dass es dir gut geht, ist auch in mir die Lebensfreude wieder zurückgekehrt. Ich warte auf dich.
Die Freiheit findet immer einen Weg
4. März: Zwei Monate ist es her, seitdem du wieder zu mir zurückgekehrt bist. Ich habe mich sehr gefreut, dich wieder zu sehen und werde den Moment nicht vergessen, an dem wir uns in unsere Arme gefallen sind. Ich werde aber auch nicht vergessen, wie wütend du auf mich warst, als dich meine Freundinnen und Freunde mitnehmen mussten. Verzeih mir. Wir mussten sichergehen, dass du auch wirklich gesund bist und sich niemand deines Geistes bemächtigt hat. Ich wusste, sie würden dir keinen Schaden zufügen. Sie haben es mir versprochen und mir gesagt, dass wir uns einen Monat später wiedersehen würden. Ich habe jeden einzelnen Tag gezählt, bis du wieder bei mir warst. Und wie sie mir versprochen haben, bist du nun bei mir. Irgendwie hast du dich verändert. Du bist ruhiger geworden und kein böses Wort kommt mehr über deine Lippen. Im Gegenteil: Du äußerst dich nur positiv über deine Zeit, in der du weg warst. Ihr habt euch viel unterhalten, Meinungen ausgetauscht und über die Zukunft geredet. Ich hätte nie gedacht, dass du nun ein großer Befürworter der Revolution bist. Ich freue mich sehr, dass du alles nun so positiv aufnimmst, wie ich es tue. Unsere alten Probleme sind vergessen. Du bist der beste Ehemann, den ich mir wünschen könnte.
Nun bist du hier bei mir – und nichts kann uns mehr auseinander bringen. Erheben wir unser Glas und stoßen an: Auf den ersten Jahrestag unserer neuen Republik. Auf das sich niemals wieder etwas ändern möge. Ich liebe dich.
(Alper Iseri / meetinx.de)
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