Es ist ein grauer Sommertag. Irgendwie liegt heute etwas in der Luft. Ich kann nicht sagen, woran es liegt, aber irgend etwas ist heute anders als sonst. Vielleicht liegt es daran, dass heute weniger Menschen auf den Straßen sind. Aber es ist kein Sonntag. Einzelne Gestalten ziehen an mir vorüber – austauschbar wie jeder andere Mensch in den Gassen. In Gedanken versunken wandele ich zwischen den Häusern umher, blicke mich hier und da um und habe ein so merkwürdiges Gefühl im Bauch. Ich fühle mich beobachtet, aber so sehr ich mich auch drehe und wende entdecke ich niemanden, der es auf mich abgesehen hätte. In den Zeitungen vor einigen Wochen habe ich von der Zerstörung von Büchern gelesen, von einer staatlichen Überwachung, die auch vor Freunden und Familien keinen Halt macht. Mein Telefon, so heißt es, würde abgehört und vor einigen Tagen ist die Wohnung neben mir von einen Tag auf den anderen frei geworden. Etwas stimmt hier nicht und doch kann ich nicht sagen, was es ist.
Sicher – es gibt Gerüchte hier und da, aber diese kommen nur von einzelnen Menschen, die sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen. Aber sie sind eindeutig in der Minderheit. Der Großteil scheint sich nicht dafür zu interessieren, was momentan vor sich geht. Ich gehe zum Marktplatz und kaufe mir eine neue Zeitung. 24 Seiten lang – scheint also doch noch eine Menge auf der Welt zu passieren. Ich blättere herum und entdecke einen Artikel, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Anscheinend wurde ein neues Gesetz verabschiedet. Um dem Verbrechen Einhalt zu gebieten, wurden der Polizei nun außerordentliche Rechte eingeräumt. Die Staatsdiener verfügten nun wohl über umfangreiche Vollmachten. Details gibt es keine. Und auch der Artikel selber ist erst auf Seite 21 zu finden, neben den Kreuzworträtseln. Ein so wichtiges Thema in neun Sätzen abgefrühstückt? Langsam zweifle ich an mir selbst. Noch einmal blättere ich die Zeitung durch. Nichts weiter zu finden. Was in Gottes Namen ist hier los?
Die Starken gewinnen, die Schwachen verlieren
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Habe ich mir gestern vielleicht doch ein Schlückchen zu viel genehmigt? Ich glaube nicht. Zumindest konnte ich mich auf mein Fahrrad setzen und den zehnminütigen Weg von der Kneipe zu mir nach Hause ohne Probleme bewältigen. Ich gebe zu, ich war schon lange nicht mehr draußen. Meine Arbeit nimmt mich vollkommen ein. Nachdem durch die Wirtschaftskrise eine Menge Leute entlassen werden mussten, lag es an mir, mich zu entscheiden: Entweder ich würde resignieren oder versuchen, mir etwas eigenes aufzubauen. Ich entschied mich für Letzteres. Seitdem arbeitete ich vorwiegend von Zuhause aus oder machte mich auf den Weg durch die Straßen, um etwas Neues aufzuschnappen, was ich für einen meiner Berichte nutzen konnte. Ach – Sie können es ja noch gar nicht wissen: Ich bin freier Journalist und verdiene mir in diesen schwierigen Zeiten mein kleines bisschen Geld zum Leben. Wobei die Inflation nicht nur mich langsam in den Wahnsinn treibt. Innerhalb der vergangenen Wochen sind alle Grundnahrungsmittel ungeheuer teuer geworden. Viele Menschen wissen seitdem nicht mehr, wo von sie sich ernähren sollten. Und wenn ich von vielen Menschen spreche, werden Sie sich denken können, dass nicht alle mit diesem Problem zu kämpfen haben. Es ist halt so wie immer: Die Starken gewinnen, die Schwachen müssen sehen, wo sie bleiben.
Das ist Staatangelegenheit
Vor mir gehen zwei Polizisten. Sie haben zwei Jugendliche in Handschellen gelegt und führen sie gerade ab. Meine Chance. Ich hechte ihnen hinterher und schalte mein Mikrofon ein. „Was ist passiert?“ frage ich einen der beiden Staatsdiener. „Die beiden jungen Menschen haben die öffentliche Ruhe gestört und sind durch ihr Handeln eine Gefahr für die Gesellschaft.“ Ich stelle mich vor die Polizisten. „Was wird ihnen vorgeworfen?“ Der Ältere von beiden mustert mich mit einem abfälligen Blick. Dann entgegnet er: „Das ist Staatsangelegenheit. Sie brauchen sich nicht darum zu bemühen. Wir wünschen ihnen einen schönen Tag.“ Dann gehen sie weiter. Verdutzt bleibe ich stehen. Die beiden Jugendlichen blicken mich beim Vorbeigehen mit verheulten Gesichtern an. Trauer und Zweifel sind ihnen ins Gesicht geschrieben. Und doch sagen sie kein Wort. Dann werden sie in einen Polizeiwagen verfrachtet und brausen davon. In einem Moment habe ich das Gefühl, als ob einer der Polizisten im Wagen mich anblickt. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Sehr mysteriös.
Kann man Freunden noch vertrauen?
Ich ziehe weiter meine Runden. Im Park treffe ich auf Karl, einem meiner ehemaligen Kollegen aus der Redaktion. Er sitzt auf einer Bank und füttert die Tauben. Als er mich sieht, lächelt er und bittet mich zu sich. „Na mein Lieber, was machen die Geschäfte?“ fragt er mich. Währenddessen wirft er den Tauben ein paar Körner zu. „Ach was soll ich sagen. Weißt ja, wie die Geschäfte laufen. Alles sehr durchwachsen. Sag mal – ist dir hier irgend etwas aufgefallen?“ entgegne ich ihm. Karl blickt mich an. „Was soll mir aufgefallen sein? Ist doch ein wunderschöner Tag. So wie jeder Tag.“ Ich schaue auf die Tauben, die ihre kleinen Körner aufpicken. „Ich weiß nicht. Irgendwie wirkt alles so kahl und leer. Ich habe das Gefühl, irgend etwas ist hier im Busch.“ Karl blickt mich an. „Was meinst du genau? Was ist dir aufgefallen?“. „Eben wurden zwei Jugendliche von Polizisten abgeführt und alles was sie mir sagten war, es sei Staatsangelegenheit. Vorhin habe ich einen interessanten Artikel über das neue Überwachungsgesetz gelesen. Stell dir mal vor: Auf Seite 21 neben dem Kreuzworträtsel. Als ob man kein Interesse daran habe, das Thema zu sehr aufzubauschen. Und auch sonst wirkt alles so stumm und leise. Als ob die Freude aus den Menschen gewichen ist. Habe ich seit meinem Urlaub vor zwei Wochen irgend etwas verpasst?“
Einen Moment lang blickt Karl ins Leere. Dann widmet er sich wieder meiner Person „Ach Blödsinn. Alles in bester Ordnung mein Lieber. Vielleicht wirst du krank? Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Vielleicht hat er recht. Wahrscheinlich mache ich mir einfach nur zu viele Sorgen. Ich verabschiede mich mit einem Händedruck von ihm und mache mich auf den Weg nach Hause. Irgendwie muss ich das heute erlebte verarbeiten. Mein Briefkasten ist leer. Ich gehe meine knarzenden Stufen nach oben, bis ich vor meiner Wohnung stehe. Ich schiebe meinen Schlüssel in das Schloss und öffne die Tür. Hatte ich vorhin nicht zweimal abgeschlossen? Ach egal, wahrscheinlich habe ich es wieder einmal vergessen. Ich entledige mich meines Mantels und schlurfe zu meinem Arbeitsplatz. Mein volles Glas Wasser liegt noch immer da. Scheinbar hat niemand aufgeräumt seitdem ich hier war. Wer außer mir sollte es auch tun? Ich trinke mein Glas in einem Zug aus und fange an, die einzelnen Briefe und Umschläge zu sortieren, als mir ein Umschlag auffällt, der dort eigentlich nicht hingehört. Und verschlossen ist er auch noch.
Eine Überraschung wartet
Voller Ungewissheit schaue ich mich um und frage mich, ob ich noch vollkommen bei Sinnen bin. Außer mir ist natürlich niemand in der Wohnung. Wie dumm von mir. Natürlich ist niemand in meiner Wohnung. Ich werde noch wahnsinnig. Dann greife ich nach meinem Brieföffner und ziehe einen handgeschriebenen Zettel aus dem Umschlag:
„Lieber Herr H., Sie wissen nicht, wer ich bin aber ich weiß, wer Sie sind. Scheinbar sind sie einer der wenigen, die nicht in diese Verschwörung, oder wie man auch immer sie nennen mag, involviert sind. Ich habe Sie beobachtet. Sie scheinen nicht zu ihnen zu gehören. Es ist etwas Schlimmes im Gange. Sagen Sie nichts und verhalten Sie sich unauffällig. Ihre Wohnung wird überwacht, Sie werden überwacht. Tun Sie so, als wäre alles in bester Ordnung. Ich treffe Sie morgen früh um neun Uhr vor Ihrer Wohnung und bringe Ihnen die aktuelle Zeitung vorbei. Sie sind nicht alleine. Ich werde Ihnen helfen, das alles aufzulösen.“
Von meinen Gedanken überwältigt lasse ich mich in meinen Stuhl sinken. Wo bin ich da bloß hineingeraten? Also war da doch etwas. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Die Leere auf den Straßen, die merkwürdigen Polizisten und… Karl. Auf welcher Seite stand er? Mit einem Stöhnen erhebe ich mich von meinem Stuhl und gehe ins Badezimmer. Ich bin müde. Sehr müde. Ich werfe meine Klamotten in den Gang, schlurfe mit letzter Kraft in mein Bett und schlafe ein.
Es läuft nicht wie geplant
Am nächsten Morgen klingelt es an der Tür. Einmal… zweimal. Doch niemand öffnet. Die Person vor meiner Wohnung trippelt von einem Fuß auf den anderen. Ein Klopfen. Zunächst leise, dann energisch. Niemand öffnet. Durch die laute Geräuschkulisse öffnet sich die Tür gegenüber. Eine Frau tritt heraus. Ihrem Morgenmantel und ihren müden Augen zu urteilen, wurde sie gerade geweckt. „Was machen Sie denn so einen Krach? Es ist neun Uhr und Sonntag. Kann ich Ihnen helfen?“ Eine weibliche Stimme antwortet: „Eigentlich bin ich verabredet aber scheinbar ist niemand Zuhause. Entschuldigen Sie die Störung.“ Die Nachbarin mustert die Frau ein letztes Mal, dann schließt sie die Tür. Zwei Sekunden später öffnet sie sie unvermittelt wieder: „Ich glaube, Sie haben sich im Haus vertan. Die Wohnung ist bereits seit zwei Jahren nicht vermietet.“
„Das kann nicht sein“, antwortet die junge Frau. „Ich habe gerade gestern mit ihm gesprochen.“ – „Mit wem haben Sie gesprochen?“ fragt die Nachbarin mit einem skeptischen Blick. „Mit… ach, vergessen Sie’s. Ich habe wohl tatsächlich das Haus verwechselt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“ Dann geht sie. Langsam schließt die Nachbarin die Tür und greift zum Telefon: „Ja, sie war da. Kommt gerade aus dem Haus. Nein, keine Gefahr. Zugriff in zwei Minuten“.
Das Ende
Am nächsten Tag erscheint die „Berliner Sonntagszeitung“. Auf Seite 14 findet sich unten auf der rechten Seite ein kleiner Artikel. Eine Sympathisantin des Terrors wurde gestern in Gewahrsam genommen. Vom Journalisten Stefan Huber fehle noch jede Spur. Die Richter seien sich einig darüber, dass die Frau für den Tod des jungen Mannes verantwortlich ist. Sie wurde sofort dem Haftrichter vorgeführt und für schuldig befunden. Auf der Titelseite steht das Datum des heutigen Tages: Wir schreiben den 21. August 2011.
(Alper Iseri / meetinx.de)