Es ist noch gar nicht so lange her, da knüppelte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit auf die deutsche Blog-Szene ein – allen voran die Journalisten: „Polemisch bis rechthaberisch“ seien die Blogger hierzulande, „ein bisschen in Nebensächlichkeiten abgleitend“. Woher soll denn die Kompetenz kommen? Wie sieht es mit der Glaubwürdigkeit aus? Und überhaupt: Wo bleiben die vielbeschworenen Leser? Unterstützung bekamen die Kritiker in erster Linie von den Amerikanern, wie zum Beispiel vom US-Redakteur Sean Sinico, der sich in seinem Aufsatz „Blogs Making Baby Steps in German Politics“ vor Lachen über die Null-Relevanz deutscher Blogs im Wahlkampf 2005 schüttelte.
Und vielleicht hatten sie ein wenig Recht: es gab keine „deutsche Blogger-Kultur“. Der Radius der Insider-Gemeinde war lange Zeit gering, sowohl bei der Zahl der Themen als auch bei der Leserschaft. In Amerika sah es seinerzeit schon anders aus, Politiker fürchteten sich vor der Schreibe der Blogger und noch mehr noch vor Trackbacks, die die kritischen Worte in Windeseile in das ganze Land brachten. Gelobt und geschätzt wurden hingegen die etablierten Medien, die ihr Tagesgeschäft traditionell reserviert abspulten.
Das Blatt hat sich gewendet
Doch die deutsche Blogosphäre hat sich verändert – nicht graduell, sondern beinahe schlagartig. Unsere Blog-Autoren haben innerhalb der vergangenen Monate zu einer nie gekannten Mündigkeit gefunden, das Selbstbewusstsein und vor allem der Einfluss sind gewachsen. Heute sind es die Journalisten, die regelmäßig in Blogs schnüffeln, sie zitieren und ihre Betreiber zum Interview bitten. Auch die Politik hat mittlerweile das Internet entdeckt und bloggt, twittert, chattet und produziert Podcasts – mehr schlecht als recht – was das Zeug hält. In diesem Jahr der Bundestagswahl gibt es keinen Weg an den Blogs vorbei.
Wie es dazu gekommen ist? Sicher spielt der Zeitgeist eine Rolle. Es gibt keinen abgeriegelten Zirkel voller Early Adopters mehr, die allgemeine Medienkompetenz hat zugenommen, die Mehrheit der regelmäßigen Blogleser betreibt eigene Projekte im Netz. Offenkundig ist auch die Wirtschaftskrise ausschlaggebend, die Hand in Hand mit der unvermeidbaren Printkrise geht. Die finanziellen Engpässe haben die Verlagshäuser erreicht, wo von nun ein strikter Sparkurs den Weg vorgibt: Redaktionen werden abgebaut oder zusammengelegt, Ressorts zurechtgestutzt, Agenturmeldungen ersetzen die kostspielige Recherche.
Vom bundesweiten Streamlining der Meinungsvielfalt sind Blogger die Profiteure, da sie von Natur aus finanziell wie thematisch schon immer unabhängig und damit krisenresitent operierten. Während die Medien derzeit orientierungslos und mit großer Verspätung im Web 2.0 ankommen, haben Blogs ihr Publikum bereits empfangen.
(André Vatter)