Sonstiges

Als mein Leben als Techblogger eine entscheidende Wendung nahm

Ich kauerte vor meinem Schreibtisch mit dem Kinn auf der Tischplatte und schielte nach dem Glas Scotch, das mich von der gegenüberliegenden Tischkante her anlachte. Müde griffelte ich danach und stieß es dabei versehentlich hinunter. Das Glas zerbrach, meine Katze kam und schleckte den Whisky vom Fußboden auf. Ich seufzte. Das Leben als deutscher Techblogger ist hart, knallhart. Nie, aber auch nie bekommt man Insider-Tipps, die man in seinen Beiträgen zu Gerüchten aufbauschen kann. Die US-Blogs und Branchenblätter sind voll davon: „Personen, die mit der Materie vertraut sind, glauben gehört zu haben, dass…“ Und anschließend werden technische Details und stattliche Millionenbeiträge genannt. Unerheblich, ob es dann schließlich stimmt, was diese Personen vom Hausmeister gehört haben, der im Nebenraum eines geheimen Meetings die Lampen ausgewechselt hat. Hauptsache, man ist der erste, der darüber schreibt.

Ich hatte genug und sprang mit einem Satz von meinem Schreibtischstuhl auf, der gegen die Wand schnellte, ein Regal traf und die einzige Blumenvase herunter stieß, die mein Büro zierte. Die Vase zerbarst am Fußboden, meine Katze kam, schnüffelte an dem abgestandenen Wasser, verzichtete dann aber darauf, davon ebenfalls zu kosten. Ach, was für ein Leben! So konnte es nicht weiter gehen. Ich nahm meinen Trenchcoat vom Kleiderhaken, fuhr meinen Windows-98-Rechner herunter und wollte gehen. Ich stand schon in der Tür, als mein Telefon klingelte. Sollte ich überhaupt noch dran gehen? Wer konnte das schon sein: meine Ex-Frau, mein Vermieter, dem ich noch zwei Monatsmieten schuldig war? Es klingelte weiter. Die Nummer im Display kam mir nicht bekannt vor. „Ach, was soll’s“, dachte ich und ging ran.

Schwarzer Schlapphut, Kragen hoch


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Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung klang elektronisch verzerrt. „Wir müssen uns treffen“, herrschte sie mich an. „Morgen um Mitternacht am Hafen. Ich habe da etwas, wovon ich nur Ihnen erzählen kann.“ Noch am gleichen Abend fand ich mich mit gespitztem Bleistift, Notizblock und Aufnahmegerät in „Pier 16“ ein, einer üblen Hafenkaschemme, in der es täglich Schlägereien zwischen den Matrosen aller Nationen gab. Es wurde gespielt, gedealt, um leichte Frauen gewetteifert. „Nirgendwo sonst im Universum wirst du mehr Abschaum…“, aber das ist eine andere Geschichte. Ich wartete vergeblich. Wer konnte auch ahnen, dass mit „morgen um Mitternacht“ erst der nächste Tag gemeint war. Dann aber ließ mich mein geheimer Informant nicht im Stich. Mit schwarzem Schlapphut, hochgeschlagenem Kragen und Zigarette im Mund saß er in einer dunklen Ecke und winkte mich heran. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.

Als ich mich zu ihm an den Tisch setzen wollte, packte er mich am Schlips und zog mich zu sich herüber. Mit seiner Fistelstimme, die aus irgend einem Grund den Unterton einer Kreissäge in sich trug, flüsterte er mir die Details der Geschichte ins Ohr, die er auf Lager hatte. Noch bevor ich eine Frage stellen konnte, beantwortete er sie direkt. Am Ende verschwand der geheime Informant auf unerklärliche Weise und ich hatte eine Exklusivstory, wie sie es in sich hatte: Apple würde den Kopfhörerhersteller Egotronics kaufen, einen chinesischen Anbieter für kristallklaren Sound. Er stellt Ohrstöpsel her, die nur mit iOS-Geräten funktionieren und 100 Dollar das Stück kosten. Ich war noch nicht einmal in meinem Büro angekommen, da hatte ich die halbe Story schon, jede gRoß-kLeinSchreibung und Autokorrektur missachtend, in mein Smartphone eingetippt: „… wie eine exklusive, höchst beschlagene Quelle mir soeben mitteilte, die den Geschäftsabschluss praktisch mit unterzeichnet hat…“ Nur noch die letzten Ecken und Kanten geglättet und raus damit in die Welt.

Mein Telefon steht nicht mehr still

Die Story schlug ein wie eine Bombe: 400 Likes auf Facebook in einer Stunde, mehr als 200 wohlwollende Kommentare, hundert Mal +1. Ich bekam Mails in Hülle und Fülle von anderen Bloggern, und sogar ein dpa-Redakteur rief an: „Endlich haben wir einmal die Chance, persönlich zu telefonieren. Ich verfolge Ihre Arbeit ja schon lange. Was ich Sie zu der Geschichte noch fragen wollte…“ Der geheime Informant meldete sich von da an regelmäßig und ich bloggte, was immer er mir von seinem Wissen auftischte: Neues iPhone in einer Cocktailbar in Mumbai gesichtet, Lady Gaga und Andreessen-Horowitz in die Finanzierung von StudiVZ eingestiegen, was läuft da zwischen Google und Burger King? Die Hersteller überschütteten mich plötzlich mit Einladungen, mein Telefon stand nicht mehr still. Auf Kongressen kamen die wichtigen Persönlichkeiten, wie der Chefredakteur des größten Nachrichtenmagazins, plötzlich auf mich zu: „Mensch, Jürgen, wie du immer an diese tollen Informationen kommst! Wir müssen uns dringend mal treffen und darüber reden.“ Die Leserzahlen in meinem Blog explodierten und Unternehmen bettelten mich am Telefon förmlich an, darauf Werbung schalten zu dürfen.

Doch dann eines Tages: Funkstille. Mein Informant, der mich wochenlang mit Informationen versorgt hatte, um die die ganze Technikwelt mich beneidete, vereinbarte keine Treffen mehr, meldete sich nicht einmal. Was war da los, was sollte ich tun? Ich begann, selbst Gerüchte in die Welt zu setzen, aber die Leser durchschauten das. Die Kritik in den Kommentaren nahm zu: „Früher war das hier mal ein wirklich gutes Blog, aber jetzt kommt nur noch so ein Scheiß. Ich habe die Seite soeben aus meinem Feedreader gekickt.“ Ich war ratlos. Doch endlich kam mir die rettende Idee: Ich selbst höchstpersönlich würde meinen Informanten enttarnen. Es kostete mich einige Wochen Arbeit und eine Stange an Geld, um die richtigen Leute zu „überreden“. Aber dann stieß ich auf eine heiße Spur und schließlich hatte ich ihn erwischt: meinen Informanten. Die Jacke stimmte, die Statur passte – ich traf ihn, ganz unspektakulär, beim Mittagessen in einer Sushi-Bar. Als er mich sah, lächelte er und bot mir einen Stuhl an. Er schien nicht im geringsten überrascht zu sein, mich zu sehen. Er hatte auf mich gewartet.

Die Wahrheit ist viral

Und dann erzählte er mir die Wahrheit. Die Gerüchte, die er mir gesteckt hatte? Teils wahr, teils frei erfunden, aber immer recht glaubhaft. Das sei wichtig, betonte er, um glaubwürdig zu bleiben. Und nie zu dick auftragen. Immer nur so viel kommunizieren, wie notwendig, damit es viral wird. Neue Wege der Kommunikation finden. Ich sah ihn an, er nickte. Dann schob er mir seine Karte rüber, klopfte mir auf die Schulter und ging. Ich ahnte bereits, was auf der Karte stehen würde und behielt recht: „Klaus Wegner, Marketing Manager, Jung & Matt“. Zuhause am Rechner war es natürlich kein Problem mehr, die Kunden der Firma herauszufinden: Unter anderem Apple, Samsung, Facebook. Ich war auf eine PR-Agentur hereingefallen, und meine Leser mit mir. „Sie müssen das verstehen“, hatte Wegner mir bei unserem letzten Treffen noch gesagt. „Die PR muss sich immer wieder neu erfinden. Früher waren es die Viralvideos, heute sind es die geheimen Gerüchte, morgen werden es vielleicht Freunde von ihnen sein, denen wir für freundschaftlichen Rat an Sie Geld überweisen.“ Und dann sagte er noch etwas: „Schreiben Sie darüber, was Sie wollen, aber bedenken Sie: Sie hängen da mit drin.“

Also setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch, öffnete WordPress und begann zu schreiben: „Google will offenbar den Monitorhersteller TC kaufen. Das berichtete uns eine Quelle, die gute Kenntnisse über den Stand der Verhandlungen hat…“

Gerüchten gegenüber bin ich seitdem sehr aufgeschlossen. Habt ihr auch eins für mich?

(Jürgen Vielmeier, Bild: Universal Pictures. Mit Dank an Florian Schilz!)

Über den Autor

Jürgen Vielmeier

Jürgen Vielmeier ist Journalist und Blogger seit 2001. Er lebt in Bonn, liebt das Rheinland und hat von 2010 bis 2012 über 1.500 Artikel auf BASIC thinking geschrieben.

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