Der Samstag war eine protokollarische Katastrophe: Gewählt wurde der Bundespräsident, gefeiert das 60-jährige Bestehen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Zunächst schien es, dass beide Anlässe im Bundestag einen würdevollen Rahmen finden würden. Doch dann geriet einiges außer Kontrolle. Eigentlich hätte es der Bürger schon ahnen können, als Parlamentschef Lammert die Abgeordneten nach dem Urnengang dazu ermahnte, der Partymeile vor dem Brandenburger Tor wenigstens bis zur Verkündung des Wahlergebnisses fernzubleiben. Der Rat war weise, doch die Folgen unangenehm: Im Plenarsaal herrschte die Disziplin einer Grundschulklasse am letzten Tag vor den großen Sommerferien. Die Zeit verstrich quälend langsam.
Bevor das Ergebnis schließlich offiziell öffentlich wurde, irrten Saaldiener mit Blumensträußen durch die Reihen der Fraktionschefs, schlichen zurück, kamen wieder. Eine Blaskapelle bezog vor dem Bundesadler Stellung, dabei wusste jeder, dass eine Entscheidung im ersten Wahlgang Köhlers sicherer Sieg wäre. Lauter Jubel brandete im schwarz-gelben Block auf, während Gesine Schwans Unterlippe leise zu zittern begann. Hausherr Lammert lief derweil unruhig draußen im Schatten des Reichstags und der Ü-Wagen auf und ab, checkte sein Handy, blickte nervös umher und strich sich das Sakko glatt. Wo blieb Köhler?
Es muss diese Mischung aus Spannung und Langeweile gewesen sein, die im Folgenden zwei zurückgelehnte Abgeordnete dazu trieb, ihre Smartphones aus der Tasche zu holen und für ein wenig Aufregung zu sorgen. SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber warf seins jedenfalls an, schoss ein paar Fotos und postete sie auf Twitpic und – man weiß bis heute nicht wie – bekam irgendwie Wind von den Interna der Auszählung. Gegen 14.15 Uhr twitterte er das erste Gerücht, zwei Minuten später dann die folgende Meldung: „Nachzählung bestätigt: 613 Stimmen. Köhler ist gewählt!“ In Windeseile verbreitete sich die Nachricht auf Twitter, auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand wissen konnte, ob sie tatsächlich stimmte. Dafür kam ja auch kurze Zeit neues Futter: CDU-Frau Julia Klöckner, als Mitglied der Zählkommission in die geheime Abstimmung involviert, zwitscherte nun fröhlich: „#Bundesversammlung Leute, Ihr könnt in Ruhe Fußball gucke. Wahlgang hat geklappt!“ Wohlgemerkt: Das alles passierte, während Lammert für nur kurze Zeit das Klassenzimmer verlassen hatte, um auf den Gewinner des Tages zu warten – der jedoch im Stau steckte. So wusste die halbe Nation von dem Abstimmungsergebnis, lange bevor die Zahlen in ein Mikrofon gesprochen wurden und Bundeshorst seine fünfminütige Standup-Dankesrede halten konnte.
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Eine mehr als delikate Angelegenheit – die jedoch noch nicht vorbei ist. In die Debatte um die Legitimität eines parlamentarischen Außerhaus-Tweets haben sich nun weitere Stimmen gemischt; mittlerweile herrscht in der politischen Microblogosphäre eine Schlammschlacht, die an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Ich habe im Folgenden die Twitter-Diskussionen nachgezeichnet. Die Hauptakteure sind: Ulrich Kelber (SPD), Volker Beck (Grüne), Julia Klöckner (CDU) und nicht zu vergessen der Vorsitzende der SPD Niedersachsen, Garrelt Duin.
Klöckner: „#Bundesversammlung Bundes-Hotte hält Dankes-Antrittsrede – toll!!!!“
Klöckner: „Zur Twitter-Diskussion von der Bundesversammlung: ich habe bewusst erst nachdem Kapelle/Blumen reinkamen, Applaus begann u. jeder wusste, dass es keinen 2. Wahlg. gibt, getwittert, dass 1. Wahlgang geklappt hat. Namen oder Stimmergebnis zu vermelden, wäre unangemessen gewesen.“
Beck: „protokollarischer totalausfall muss im ältestenrat besprochen werden #bpw“
Klöckner: „@UlrichKelber Na, na, Hr. Kelber, was hör ich da? Im DLF behaupten Sie, ich hätte das Ergebnis aus der Auszählung getwittert?“
Kelber: „@JuliaKloeckner hör ich mir an, wollte ich zumindest so nicht sagen“
Klöckner: „@UlrichKelber…Sie wissen, dass das nicht stimmt – wollen Sie ablenken? Tut man doch nicht…“
Kelber: „@JuliaKloeckner in DLF reingehört. Habe ich wirklich falsch gesagt. Hiermit entschuldige ich mich öffentlich bei Ihnen. War nicht Absicht!“
Duin: “ @UlrichKelber Lese gerade bei BILD.de, dass wir nicht mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten. Hallo? Warum auch?#bpw #twitter“
Beck: „@UlrichKelber trotzdem bleibt richtig: Twitter ist nicht Wikileaks. Was offline nicht ok ist, wird auch online nicht besser. Oder?“
Kelber: „@Volker_Beck Widerspruch. Dann tratscht das Ergebnis doch nicht im ganzen Reichstagsgebäude rum.“
Beck: „@UlrichKelber Ich habe es niemanden weitergetratscht. Bei uns hat es nur der Vorstand gewusst. Woher hast Du es denn?“
Kelber: „@Volker_Beck Im Grenzbereich SPD/Linke, wo ich saß, war das allgemein bekannt!“
Duin: „@Volker_Beck Ich wusste es von Leuten, die als Gäste auf der Fraktionsebene standen! Finde ganze Aufregung künstlich. #bpw #nuisgutgewesen“
Klöckner: „Finde es überzogen, dass aus dem verfrühten Hereinrufen der Kapelle eine Riesenaffäre gemacht wird. Wo Menschen sind, passieren Fehler“
Duin: “ @Volker_Beck Jedenfalls lenkt das alles schön vom eigentlichen, politischen Fehler ab… Aber dazu werde ich jetzt nix twittern! :-)“
Wie dieser Kindergarten in der Lage sein soll, in Zeiten von #Wirtschaftskrise, wachsender #Arbeitslosigkeit, #Zensursula und #Bildunsgnotstand den Karren aus dem Dreck zu ziehen – ist mir unbegreiflich.
(André Vatter)